23.12.2011

Weihnachten vor Tür

Fast zur gleichen Zeit sind der bekannte Freiheitskämpfer Vaclav Havel und der Oberste KZ-Wächter im kommunistischen Korea Kim Jong Il gestorben. Obwohl beiden von Zeitzeugen menschliche Stärken und Schwächen nachgesagt werden, geht der eine als beinahe Heiliger und der andere als Monster von uns.

Eine bessere Denkvorlage zum ewigen Thema Gut und Böse im Leben und Tod hätte man sich nicht träumen können.

All meinen Lesern wünsche ich besinnliche Tage!

18.12.2011

Václav Havel ist tot

Am Václav Havel sollen wir uns messen und an Ihm sollen wir gemessen werden.

Der Mann oder die Frau, die auf diesem Kontinent leben und diesen Satz nicht verstehen, speisen von jener narzistischen Nichtigkeit, die gegenwärtig bloß deshalb unbesiegbar scheint, weil es im billigen Überfluss vorteilhaft erscheint, Nichts zu sein. Selbst dieser Mann und diese Frau, selbst diese Mehrheit zehrt aber letztlich von Havel.

Wenn sich das Leben, sei es einzeln oder kollektiv, in Not wie selbstverständlich zur Substanz verdichtet, wird der kühne warme Geist Vascheks wieder gefragt - und unverzichtbar. Wie früher schon die Geister von "Gilgamesch, Hektor, Roland/ die das reich ohne grenze als auch die stadt der asche verteidigt haben".

11.12.2011

Cameron, Kaczyński, Merkel und andere Verfechter des nationalen Egoismus

Einzig England blockierte während des Brüsseler Gipfels am 8./9. Dezember jene EU-Reform, die trotz ihrer offensichtlichen Schwächen (über die notwendige Demokratisierung Europas wurde kein Wort verloren) den einzig bekannten Versuch darstellt, den Euro und die EU zu retten. David Cameron habe durch sein beharrliches Auftreten für englische Nationalinteressen sein Land an den Rand der Belanglosigkeit in der Europäischen Union hinaus manövriert - so etwa ist der Grundton der Kommentare in unseren Medien nach dem besagten Gipfeltreffen. Aber zugleich beschwört der "Bundespräsident Wulff ... die EU-Mitglieder, am engen Verhältnis zu Großbritannien festzuhalten". Besonders unsere braven Öffentlich-Rechtlichen bringen deshalb trotz allem auch das Verständnis für politische Zwänge ein, denen der prime minister zu Hause ausgesetzt ist.

Wie anders waren die Reaktionen der deutschen Medien während des ebenso Brüsseler Gipfels im Juni 2007, als sich die politische Führung Polens weigerte, die deutschen Vorschläge für eine EU-Reform anzunehmen. Damals ging es um die "doppelte Mehrheit", die die Stimmengewichtung im Rat zugunsten Deutschlands, Frankreichs, Englands und Italiens (und auf Kosten kleinerer Länder, darunter vor allem Polens) verschob. Warschau, von Tschechien unterstützt, schlug dagegen einen arithmetisch gerechteren (Deutschland durchaus stärkenden) Kompromiss vor, dass das Stimmengewicht im Rat nach der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl berechnet werden sollte. Kübelweise schüttelte man daraufhin über "die polnischen Zwillinge" Dreck aus. Stefan Ulrich in der "Süddeutsche" war den Kaczyński-Brüdern gegenüber noch gnädig: "Den europäischen Staaten läuft die Zeit davon, wenn sie den Globus mitgestalten und ihr Zivilisations-Modell erhalten wollen. Sie können sich nur gemeinsam behaupten - und sie können nicht mehr warten, bis das auch die Herren Kaczynski verstehen". Unter dem "unseren Zivilisationsmodell" verstand der imperiale Journalist offenbar jenes genuin europäische Schuldenmachen, das heute den ganzen Globus in eine Krise stürzt und die Europäer dazu bringt, auf das Geld der chinesischen Kommunisten zu hoffen. Und auch die Bundeskanzlerin setzte damals die deutschen Interessen der europäischen Zivilisation gleich: Sie schlug während des Gipfels allen Ernstes vor, die doppelte Mehrheit gegen die Stimme Polens, d.h. auf einem vertragswidrigen Weg anzunehmen.

Es lohnt an diese Geschichte zu erinnern, damit niemand über das "europäische" Ergebnis des letzten Brüsseler Gipfels in Verzückung gerät. Auch heute geht es primär um deutsche (und französische) und gar nicht um genuin europäische Interessen. Auch heute wird die EU von Deutschland (und Frankreich und anderen) als Mittel und nicht als Zweck der Politik betrachtet. Auch heute denkt Merkel genauso egoistisch wie Cameron und Jarosław Kaczyński (der nun in Polen unsinnigerweise gegen den heutigen polnischen Regierungschef Donald Tusk wettert, der wiederum - wie viele andere europäische Politiker auch - aus der Sorge um den Zerfall der EU heraus die deutsch-französischen Vorschläge unterstützt).

Fazit. Unsere europäische Zukunft hängt von den national-kleinkarierten Geistern ab, die Mal so und Mal so handeln oder schreiben oder talken, je nachdem, aus welcher Ecke ihnen der nationale Wind zu wehen scheint. Deutschland und Frankreich werden dabei erst dann aufhören, kleine Länder und Länder mittlerer Größe zuweilen wie Vasallen zu behandeln, wenn die Europäische Union ein demokratischer Souverän wird. Diese EU-Demokratisierung wird wiederum nicht stattfinden, wenn die kleinen und mittleren Staaten genauso kleinkariert-national bleiben wie die Großen. Von Polen jedenfalls sind in absehbarer Zeit keine richtungsweisenden Impulse zu erwarten.

08.12.2011

Nochmals der Quadriga-Preis für Putin?

Erinnern Sie sich noch an den biederen Verein "Werkstatt Deutschland", der vor mehreren Wochen ausgerechnet Wladimir Putin mit dem Quadriga-Preis für seine "Verdienste für die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen" u.a.m. ehren wollte?

Vielleicht könnte das Kuratorium dieses mit der Regierung und überhaupt mit der offiziellen Politik eng verzwickten Vereins es jetzt nochmals versuchen. Putin lässt augenblicklich die Demonstranten gegen seine Wahlfälschung prügeln und verhaften. Er braucht jetzt die Unterstützung seiner deutschen Freunde. Sonst könnte "die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen" Schaden nehmen.

Helmut Schmidt und seine Europa-Rede

Helmut Schmidt hat sich (wieder) gemeldet. Seinem edlen Alter durchaus angemessen, erscheint er oft als ein Mann des 20. Jahrhunderts, der sich dagegen wehrt, die gegenwärtigen Realitäten anzuerkennen. Es passt in dieses Bild sehr gut, dass er auf dem Fernsehschirm wohl am häufigsten zu seinen Gefühlen vom Oktober 1977, als er das grüne Licht für das gewaltsame Befreien der deutschen Flugzeuggeiseln in Mogadischu gegeben hatte, befragt wird. Aber er äußert sich auch gern zur Gegenwart. Als würde es keine Globalisierung geben, die doch auch und besonders für die deutsche Politik internationale Zusammenhänge sehr verdichtet hat, wettert er oft und mit Vorliebe dagegen, dass sich die Bundesrepublik außerhalb Europas militärisch engagiert. In seinen wirtschaftlichen Analysen ist er dagegen stets up to date, was sowohl bewundernswert ist als auch die universitäre Ökonomie der Bundesrepublik, die ihre Blindheit für die wirtschaftlichen Probleme der Gegenwart oft zur Schau gestellt hat, beschämen könnte.

Diesmal - auf dem SPD-Parteitag am. 3. Dezember - hat der politisch 1982 gescheiterte Altbundeskanzler einige Gedanken über Europa formuliert. Diese Gedanken stammen zwar auch vom 20. Jahrhundert, aber sie wirken in diesem Europa-skeptischen Land trotzdem erfrischend. Leidenschaftlich und ohne Rücksicht auf die Stimmungen im Lande (auch auf die absehbaren plumpen Kommentare, mit denen die meist jugendlich-nationalistischen Internetforen auf seinen Auftritt reagiert haben) plädierte Schmidt für die wahre europäische Solidarität. Deutlich wie niemand hierzulande erklärte er u.a. die finanzielle Hilfe für Griechenland zur nationalen Pflicht Deutschlands. Dabei berief er sich auf europäische Geschichte und die verhängnisvolle Rolle, die für diese Deutschland im 20. Jahrhundert gespielt hatte.

Die auf Willensstärke beruhende Überzeugung und Glaubwürdigkeit konstruieren die Größe dieses Mannes, selbst wenn er gar nicht so selten irrt und seinen Kritikern gegenüber zuweilen auf schroffe Weise ungerecht ist (ich weiß, wovon ich rede, weil er auch auf mein Urteil über seine völlig verfehlte Polen-Politik der siebziger und achtziger Jahre recht plump reagierte). Daran, dass seine aktuellen Äußerungen zur Krise in Europa trotzdem großen Respekt verdienen, ändern diese seinen früheren Fehler jedoch nichts.

Das eine Problem mit seiner Rede besteht eher darin, dass er in einem Land geschichtlich argumentiert, das der Geschichte mit Vorliebe entflieht. Anders gesagt: Seine Argumentation ist zu tiefsinnig, als dass die Chance bestünde, mit ihr den Otto-Normalverbraucher zu überzeugen. Das andere Problem ist grundsätzlicher Natur: Schmidt will die Deutschen für Europa gewinnen, indem er national argumentiert. Den Schritt hin zum wahrlich europäischen Denken hat er nicht getan (kein Wunder beim Menschen seiner Generation).

Obwohl also der Altbundeskanzler die besagte Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit ausstrahlt, die heute der politischen Prominenz in allen europäischen Ländern gänzlich abhanden gekommen zu sein scheint, wird seine Rede nichts bewirkt haben. Falsch! Sie wird doch eine gewisse Wirkung entfalten. Sie wird nämlich den künftigen Historikern ein Beweis (unter unzähligen anderen) dafür sein, dass in der dramatischsten und verhängnisvollsten Krise unserer Union die rationalen Argumente die meisten Menschen nicht zu erreichen vermochten. Den denkenden Politikern von heute wird sie zugleich die Mahnung sein: Sie sollen das Richtige tun, selbst wenn die Masse nicht mitzieht.

Werden diese Politiker die dazu notwendige Schmidtsche Willensstärke haben?

25.11.2011

Der Krise sei dank! Deutschland muss sich entscheiden: DM oder Europa.

Haben Sie bemerkt, dass die "Griechenlandkrise" nicht mehr so heißt? Es wird nun von "der Krise" und sogar von der "Euro-Krise" gesprochen. Dieser Begriffswandel zeugt vom kläglichen Scheitern des Krisenmanagements der selbst ernannten "Europa-Führung": Deutschlands und Frankreichs. Diesem Versagen liegt die nationale Selbstgefälligkeit zugrunde.

In Deutschland erleben wir z.Z. ihren Höhepunkt. Frau Merkel will aus dem eng begriffenen nationalen Interesse heraus die Euro-Anleihen nicht haben und sie wird in ihrer Weigerung von den zum beträchtlichen Teil irrational gewordenen nationalen Medien unterstützt. Die Presse reklamiert mittlerweile ganz ungeniert für Deutschland die Führung in Europa. Es wird sogar behauptet, dass die Europäische Kommission in der Frage der "Euro-Bons" der deutschen Bundesregierung nicht widersprechen darf... Als hätte die Europäische Kommission nicht die vertragliche Pflicht, europäische Politik zu gestalten. Sind die scheinbar gebildeten Deutschen, die jetzt über den überzeugten Europäer Barroso mit dem chauvinistischen Gelabber herziehen, aus allen Wolken gefallen? Ist die Welt ganz verrückt geworden oder doch nur der Großteil der Presse hierzulande?

Weder noch. Die Welt braucht uns Menschen samt der Bundesrepublik und der Europäischen Union gar nicht (sie regiert sich mit oder ohne uns - nach eigenen Gesetzen und oft auch ohne Gesetze). Was wiederum den nationalen Größenwahn der besagten Zeitungen angeht, so geht er darauf zurück, dass ihre Redakteure mit der gegenwärtigen Krise zum ersten Mal in ihrem Leben gezwungen sind, europäisch zu denken. An dieser für sie ganz neuen Aufgabe scheitern sie wie selbstverständlich. Denn bis vor Kurzem noch hatten sie die Europäische Union gebetsmühlenartig als eine Veranstaltung propagiert, in der die nationalen Interessen des bevölkerungsmäßig größten Landes Westeuropas am besten untergebracht sind. Das bedeutet, dass ihnen angesichts der riesigen Vorteile des Friedens und des gemeinsamen Marktes die deutschen Kosten der EU-Mitgliedschaft als sehr gering erschienen.

Die EU war unter dem entscheidenden Einfluss der Deutschen und Franzosen autoritär-undemokratisch und ökonomistisch konstruiert worden. Deshalb haben ihre Institutionen nach der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung kläglich versagt. Die Verantwortung für das gemeinsame Geld hätte nämlich von wahrlich europäischen Institutionen übernommen werden müssen, die auf dem Gebiet der gesamteuropäischen Fiskalpolitik mit realer Macht und tatsächlicher Unabhängigkeit von den Nationalstaaten (auch von Deutschland und Frankreich) ausgestattet gewesen wären. Stattdessen wurde 1997 von den Ländern der Euro-Zone lediglich der "Stabilitätspakt" angenommen. Pakte und Verträge haben es jedoch an sich, dass sie verletzt werden können. zumal von den Großen.

Es war ausgerechnet die damals schon als die verkappte "Führungsmacht Europas" agierende Bundesrepublik unter dem (auf vielen Feldern) erstaunlich kurzsichtigen, prinzipienlosen und offenbar primär von nationalen Gefühlen getriebenen Kanzler Gerhard Schröder, die den europäischen Stabilitätspakt ausgehebelt hatte. Ihm ging es darum, die durch seine Regierung in den Jahren 2002-2005 massiv praktizierte Verletzung der Haushaltsdisziplin von entsprechenden europäischen Instanzen nicht mit Milliardenzahlungen bestrafen zu lassen. Es war sein Finanzminister, der durch die Medien lief und überall erzählte, dass die Maastricht-Kriterien "nicht so dogmatisch" zu verstehen sind. So gut wie niemand hatte damals gewarnt, dass durch die de facto Abschaffung des "Stabilitätspakts" der gleichen ökonomischen Schlamperei in einigen anderen, ebenso verantwortungslosen Ländern der Eurozone (Frankreich und Griechenland waren schon damals dabei) Vorschub geleistet würde. In der Logik des nationalen Egoismus galt es nur: Deutschland zahlt nicht die Strafe, die es verdient hatte, und die deutschen Waren können auch von den überschuldeten europäischen Südländern gekauft werden.

Heute kann man auch in der seriösen Presse lesen, dass die Bundesrepublik aus dem Duo mit Frankreich ausscheren und allein die Verantwortung für die EU übernehmen darf sowie soll, weil die deutsche Wirtschaft wesentlich besser als die französische dastünde. In ihrer nationalen Bedenkenlosigkeit übersehen die nicht untypischen Intellektuellen der Bundesrepublik, dass es augenblicklich gar nicht so viel dazu bedarf, sich ökonomisch besser als Frankreich zu präsentieren. Deutschland steht dabei nur so lange besser als Frankreich da, solange sein bereits schwächelndes Wirtschaftswachstum anhält. Dieses hängt wiederum am meisten davon ab, ob in der EU deutsche Produkte gekauft werden. Da die deutschen Exporte größtenteils Binnenausfuhren auf dem gemeinsamen europäischen Markt darstellen (niemand käme übrigens auf die Idee, die Ausfuhren Kaliforniens in die anderen US-Staaten zu den Exporten zu rechnen!), würden sie ohne die Käufer aus den überschuldeten bzw. hoch verschuldeten Ländern wie Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Ungarn, Frankreich u.a. dramatisch einbrechen. Das wäre auch das Ende jeglichen Wirtschaftswachstums. Und ohne dieses erscheint die Bundesrepublik als ein durchaus hoch verschuldetes, überbürokratisiertes, veraltetes, kinderloses (in einem viel stärkeren Maß als Frankreich) Land. An diesen Zuständen ändert die Tatsache nichts, dass viele Journalisten und Ökonomen den intelektuellen Professionalismus mit dem Patriotismus verwechseln, den sie wiederum fälschlicherweise als die Pflege der selbstgefälligen Wirklichkeitswahrnehmung verstehen.

So kommt es dazu, dass für die Vorteile des gemeinsamen Marktes die Bundesrepublik wesentlich mehr geben muss als bloß Garantien für Griechenland. So billig kommt sie nicht davon. Die teilweise (mit den anderen Ländern der Euro-Zone) Übernahme der Kosten für Euro-Anleihen wäre absolut notwendig - verbunden mit der Schaffung der besagten europäischen Institutionen, die die Verletzung der Haushaltsdisziplin der Euro-Länder sanktionieren könnte. Nun hat die bisherige Weigerung der Bundeskanzlerin in dieser Frage wohl am meisten dazu beigetragen, dass das Vertrauen der Märkte in die "Euro-Bons" ebenso verloren gegangen ist wie in die deutschen Staatsanleihen. Deutschland mit seinem nationalen Denken trägt somit die Hauptverantwortung für die Zeit, die für eine notwendige große EU-Reform möglicherweise fehlen wird. Es hat damit zum wiederholten Male gezeigt, was von vornherein klar war: Dass es sich mit seinem Anspruch auf die Führung in Europa schlichtweg übernimmt. Warum sollte es übrigens damit heute besser aussehen als in den dreißiger und vierziger Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts?

Die gegenwärtige Krise der EU kann nur auf eine wahrlich europäische Weise - mit einer Reform, die den souveränen europäischen Bund nicht zuletzt mit fiskalen Vollmachten schafft - gelöst werden. Ob Deutschland, von Frankreich (und auch anderen Ländern) ganz zu schweigen, das geistige Potenzial zu entwickeln vermag, eine solche institutionelle Neugestaltung anzustoßen und zu bewerkstelligen, muss bezweifelt werden. Es bleibt nur zu hoffen, dass die heutzutage anscheinend unvermeidbare Vertiefung der gegenwärtigen Krise langsam genug vonstatten geht, damit die Erkenntnis darüber, was getan werden muss, auch reifen kann. Offenbar können die deutschen Eliten nur dank dieser verheerenden Krise feststellen, was für Deutschland in Europa notwendig ist. Der Krise sei dank!

Wenn ein beträchtlicher nationaler Souveränitätstransfer auf den europäischen Bund nicht stattfindet, können wir uns vom Euro verabschieden. Ob die EU den Ausfall der gemeinsamen Währung überstehen würde, weiß man nicht, obwohl sich die Kanzlerin in dieser Frage sehr dezidiert sehr pessimistisch ausspricht. Sicher ist freilich, dass der Zusammenbruch von Euro und der EU Deutschland ungleich mehr als die Euro-Anleihen kosten würde. Wenn die politischen Eliten über die systemischen europäischen Interdependenzen lieber national fühlen als europäisch denken, dann muss das Volk eben zahlen. Vielleicht kriegt es auch eines Tages seine beliebte D-Mark wieder. Der Krise sei dank!

10.11.2011

Deutschland mit Russland gegen Europa

Vorgestern - am 8. November 2011 - ist die Ostsee-Pipeline North Stream in Betrieb genommen worden. Obwohl die deutschen Pressekommentare dazu manchmal durchaus kritische Töne enthalten, wird dieses Projekt hierzulande doch letztlich als "europäisch" verstanden, wozu auch die gezielte Propaganda der Bundesregierung beiträgt. Diese Propaganda entbehrt jedoch jeder Grundlage. Denn beim North Stream handelt es sich um ein in erster Linie deutsch-russisches Projekt, das vitale Interessen einiger europäischer Länder verletzt und überhaupt nicht europäisch ist.

Mit diesem Projekt verlieren Belarus und Polen jährlich einige Hundert Millionen Euro an Transitgebühren. Hätten die Politiker dieser Länder die geistige Beschaffenheit und Mentalität deutscher Eliten, würden sie schon aufgrund dieser Verluste nie zu protestieren aufgehört. Da sie aber nicht teutonisch gestrickt sind, haben sie begriffen, dass von Deutschland die finanziellen Interessen der manchmal als "Freunde" apostrophierten Staaten und Völker nicht berücksichtigt werden, wenn es selbst ein Geschäft mit Russland wittert (diese Mentalität erinnert übrigens sehr an die hierzulande immer noch sehr populären Stereotype über so manches Volk). Diesen nüchternen Befund transportieren nun die Eliten der genannten östlichen Ländern eifrig in die breite Welt.

Wesentlich mehr als Geld wiegt jedoch die so gut wie niemals angesprochene Tatsache: Mit North Stream werden besonders Belarus und die Ukraine zugunsten Russlands strategisch geschwächt. In Zukunft wird der Kreml diesen Ländern (und selbstverständlich auch Polen) den Gashahn zudrehen können, ohne auf die Kritik in Deutschland achten zu müssen. Denn in der Bundesrepublik werden die Probleme Osteuropas nur dann überhaupt wahrgenommen, wenn dabei deutsche Interessen - etwa eigene Versorgung mit Gas - bedroht sind. Deshalb stellt sich Deutschland mit der Ostseepipeline dezidiert auf die Seite des (neo-)imperialen Russlands und gegen jene Länder, die zwischen dem demokratischen Deutschland und dem autoritären Russland liegen. Die alte Tradition der deutschen Außenpolitik, die es bekanntlich sogar vermochte, zeitweilig eine Freundschaft zwischen Hitler und Stalin zu stiften, wird sodann fortgesetzt.

Diese Pipline birgt aber auch beträchtliche Gefahren für dieses meine Land in sich. Sie resultieren aus der eben erwähnten Mentalität, die dem Sinieren (vom "Denken" kann man in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen) in Kategorien des pekuniär verstanden nationalen Egoismus inne wohnen. Wie die Regierungschefin vorgestern eröffnete: "Wir setzen auf eine sichere und belastbare Zusammenarbeit mit Russland". Das bedeutet offenbar, dass man sich der Gefahr der Erpressung seitens eines autoritären Staates aussetzen darf. Einige prominente Geistestitanen der deutschen Politik haben bereits diese Gefahr zu relativieren versucht: "Die Russen" würden nun auch abhängig werden, vom deutschen Geld eben. Es bleibt nur zu fragen, ob anzunehmen ist, dass die Bundesrepublik imstande und willens ist, den Kreml etwa mit der Aussetzung der Zahlungen zu erpressen. Und umgekehrt...?

Nicht dieses Projekt, das sich vielleicht noch nur als eine ökonomische Fehlinvestition erweisen wird, bedrückt aber am meisten. Überall in der Welt werden aus Fehlkalkulation und Gier heraus falsche Entscheidungen getroffen. Am Problem North Stream schmerzt eher der angedeutete Zustand der Eliten. Unsere Eliten versagen dabei, die Freiheit, in die sie hineingeboren sind, auch verantwortungsvoll zu nutzen, weil sie zum beträchtlichen Teil obrigkeitshörig und antieuropäisch sind. Wenn sie schon eine solche Missgeburt wie North Stream nicht zu verhindern trachteten, hätten sie sie zumindest rational kritisieren müssen. Diese abendländische Rationalität glauben die Angehörigen der hiesigen Eliten doch mit Muttermilch eingesogen zu haben (wie ihre stets sorgfältig verheimlichte Verachtung für Russland).

07.11.2011

Die Demokratie stirbt vor unseren Augen

Kluge Menschen wie Ralf Dahrendorf hatten lange vor den finanziellen Krisen der letzten Jahre festgestellt, dass die westliche Demokratie autoritäre Züge bekommt: Über wichtige Sachverhalte wird fern des Volkes und seiner Vertreter entschieden. Dahrendorf hatte dabei vor allem internationale Konzerne im Sinn, die die Macht der demokratischen Nationalstaaten unterminieren. Gewiss hat dieser spontane, schrittweise Abbau der Demokratie es mit der Globalisierung zu tun. Die Zusammenhänge, im Rahmen deren wichtige politische Entscheidungen getroffen werden können, sind gerade in der Wirtschaftspolitik oft supranational. Die Folge ist, dass nationalstaatliche, demokratisch legitimierte Instanzen auf vielen ökonomischen Gebieten bestenfalls noch reagieren können, zum Agieren sind sie kaum oder gar nicht mehr imstande.

Mittlerweile werden aber auch genuin politische Entscheidungen auf einem zutiefst undemokratischen Wege getroffen. Eigentlich kann man die Tatsache nicht übersehen, dass in der Europäischen Union, die niemals demokratisch war, mittlerweile sogar nicht der Schein bewahrt wird, dass demokratische Prinzipien und Institute etwas bedeuten. Dabei werden auf der EU-Ebene bekanntlich Entscheidungen von schier unermäßlichen Tragweite für die EU-Nationen getroffen. Wer trifft sie? Merkel und Sarkozy bzw. Merkel selbst. Wie werden sie getroffen? Häufig im Handygespräch. Die Demokratie im Westen Europas kommt auf den Hund.

Warum machen die Deutschen und die Französen keinen Aufstand dagegen? Weil sie als engstirnige Nationalisten es gut vertragen können, dass ausgerechnet ihre Politiker "Europa regieren". Warum widersetzen sich aber die anderen Völker dieser pseudodemokratischen Farce nicht? Weil sie sich als engstirnige Nationalisten darüber freuen, dass sie die Verantwortung für die Zukunft der EU nicht tragen müssen. Alle verbindet dabei eine Missachtung der demokratischen Grundsätze, die den nach wie vor an Sonntagen gehaltenen selbstgefälligen Predigten der politischen Prominenz widerspricht, die westlichen Gesellschaften seien demokratisch gesinnt (in Wahrheit haben sie keine Gesinnung: RTL liefert sie doch nicht).

Und Politologen? In Deutschland sind die meisten von ihnen verbeamtet und schreiben Aufsätze sowie Bücher über die westliche Demokratie, die die Welt retten sollte. Diese Publikation werden dann von Politologen gekauft und - seltener - gelesen.

19.10.2011

Regensburg - eine Stadt regiert von Gleichgültigen

Wohne in der Altstadt, eben. Jetzt mit dem Semesterbeginn und vielen (teils mit Auto) zugezogenen Studenten, zahlreichen Straßenarbeiten usw. erleben wir, die Autofahrer unter den ca. 12 000 Altstadtbewohnern, jeden Abend einen Horror. Es dauert ca. 20 Min., bis man alle Stellen überprüft hat, an denen es Bewohnerparkplätze gibt. Damit wird das Problem normalerweise nicht gelöst. Man fährt also wieder durch. Man kann so mehrere Runden drehen... Deutschland ist ein ökologisches Land, Bayern sowieso, nicht wahr?

Was tut man, wenn man noch ein Kind im Auto hat, das dabei einschläft? Wie bringt man das Kind ins weit entfernte Haus, wenn man irgendwann irgendwo einen gerade eben geräumten Parkplatz doch noch erwischt hat? Und wie wird es für uns in der Weihnachtszeit aussehen, da es bekanntlich mit Parkplätzen am schlimmsten aussieht? Deutschland ist kein kinderfreundliches Land, das wissen wir schon; aber auch Bayern?

Das interessiert diejenigen, die uns in Regensburg regieren, gar nicht. Diese Menschen überlassen diese Probleme Herrn Zierzlmeier, der in einer Stadtuniform auf die Straße geschickt wird, um die falsch Parkenden zu bestrafen. Frau Kellner vom Verkehrsüberwachungsdienst (Tel. 0941 507-3195) hat wiederum die Frust der abgezockten Bewohner zu kanalisieren.

Weder den Oberbürgermeister Scheidinger noch die Bürgemeister Weber und Wolbergs geht das alles etwas an. Scheidinger schickt an die Bürger, die sich bei ihm schriftlich über diese Zustände beschweren, einen verlogenen Brief mit seiner Faximile-Unterschrift, aus dem hervorgeht, dass die Stadt viele Bewohnerparktplätze bietet, aber es nicht immer in "unmittelbarer Nähe Ihrer Wohnung" tun kann. Mehr Frechheit und amtsmüder Abgehobenheit sind in einer Demokratie kaum denkbar.

Die Altstadt entwickelt sich zudem seit Jahren zu einer großen Säuferveranstaltung - offenbar mit der Zustimmung der regierenden sozialen Christen, die sich wahrscheinlich keine andere "Altstadtbelebung" als mit Alkohol vorstellen können. So ziehen nachts Horden von Betrunkenen durch die Gassen, schreiend, urinierend, sich übergebend und die aufgeweckten Bewohner anpöbeld. Die Stadt tut dagegen nichts. Die lautstark in lokalen Medien angepriesenen Stadtpolizisten sieht man in der Nacht niemals. Sie "patrollieren" nämlich die Altstadt vorzugsweise an schönen Sommertagen.

Es ist manchmal so, dass bei Wahlen die politischen Präferenzen mit der Stimmabgabe nichts zu tun haben. So ist es bei Protestwahl. Regensburg hat längst eine Protestwahl verdient. Die großen Parteien, vor allem die CSU, brauchen eine regelrechte Erschütterung. Wie unangenehm es sein mag, seine Stimme gegen seine dauerhaften Parteipräferenzen abzugeben, braucht Regensburg trotzdem eine Wahl, die die angeblich christlich oder (und) sozial motivierten Politiker von ihren Ämtern und Mandaten weglbläst. Schlimmer, als es z.Z. ist, kann selbst mit der Linke nicht kommen.

26.09.2011

Zu Guttenberg: Der Papst hat in seiner Dissertation auch abgeschrieben

Es stimmt nicht, dass Benedikt XVI. - der "strenge" Theologe und "Professor" - die Menschen nicht liebt, was ihm oft unterstellt wurde, als er Johannes Paul II. auf dem Stuhl Nachfolgers Petri folgte. Es stimmt auch nicht, dass sich Joseph Ratzinger durch Jahrzehnte lange Arbeit in der römischen Kurie von Deutschland de facto abgewendet hatte.

Das beweist die vielleicht letzte Deutschland-Reise des Vierundachtzigjährigen - vom 22. bis zum 25. September d.J. - in das Land der drei einander unterstützenden Götzen: des Mammons, der Nation und des Spasses. (Das soll nicht dahingehend missverstanden werden, als würden alle Deutschen diesen Abgöttern huldigen - es sind nur die meisten). Geld reguliert dabei das Leben der Einzelnen und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Nation ist wiederum das höchste Gut, für das kleine ethnische Schreikollektive mit Schals in Nationalfarben immer bereit sind, sich ggf. bewusstlos zu betrinken. Schließlich stellt der Spaß den "definitiven" Zweck der Existenz dar. Alles, was diese Werte relativiert, wird verdrängt, überschrieen, ausgelacht, und ab und zu auch angespuckt.

Und da kommt der gebrechliche alte Mann in dieses seine Heimatland und will die Menschen mit der christlichen Botschaft erreichen. Selbstverständlich kann das nicht gelingen, obwohl mehr "Papstbesucher gekommmen" als erwartet. Nichts verdeutlicht das Aufeinanderprallen von zwei Welten, die Benedikt und Deutschland verkörpern, besser als einige Fernsehbilder aus Berlin am ersten Tag seiner Reise. Es geht dabei nicht so sehr um die Bilder der Papst-Kritiker, unter denen sich die "Anders-Liebenden" beiderlei Geschlechts hervortun, die unbedingt kirchlich heiraten und Kinder adoptieren wollen. Zu diesen Kritikern gehört auch ein Sechstel der angeblich demokratischen Volksvertretung der Bundesrepublik, der offen zugibt, zum Zuhören nicht fähig bzw. willens zu sein und deshalb tatsächlich auch zur Papst-Rede im Bundestag nicht kommt (damit soll nicht nur der Papst brüskiert, sondern auch jene Bürger, die zu ihm stehen). All diesen "emanzipatorischen und kritischen Geistern" werden von nicht gerade gescheiten "unseren Experten im Studio" der öffentlich-rechtlichen Sender starke "Partizipationswünsche" unterstellt. Es geht auch nicht um die Bilder des katholischen Bundespräsidenten, der den Papst und die katholische Kirche offenbar dazu bewegen wollte, die Scheidungen als jene Normalität zu akzeptieren, die sie in der deutschen Gesellschaft seit Langem schon sind ("der Bundespräsident hat selbst diese Erfahrung des Bruchs im Leben machen müssen" - erklärt ein feinfühliger "öffentlich-rechtlicher Kommentator"). Und es geht auch nicht um Millionen Kleinkarierte und Spießer, die sich nun beim Bier fragen, was denn diese Papst-Reise "den Steuerzahler" alles gekostet haben muss.

Aussagekräftiger waren vielmehr die Bilder von der Messe im Berliner Olympia-Stadion, während der sogar die auch ansonsten so lockere "politische Prominenz der Bundesrepublik" einen Rock-Song über Gott mitsang. Sobald aber die Messe zu Ende war, leerte sich das Stadion so atemberaubend schnell, dass man der Leistung jenes NSDAP-Architekten, der sich den Verlauf der Fluchtwege ausgedacht hatte, Respekt zollen wollte. Die gläubigen Besucher der Papst-Messe hatten offenbar keinerlei Wunsch verspürt, zusammen zu bleiben, zu feiern, miteinander zu sprechen. Nichts als Leere ist geblieben, als hätten sich die Gläubigen gescheut, ohne kitschig-rockige musikalische Begleitung zu ihrem Glauben zu stehen. Darin unterschieden sie sich von den genannten Kritikern, Gegnern sowie Feinden des Papstes, des Papstums und der katholischen Kirche. Diese hatten sichtbar viel Freude daran, sich beispielsweise als Nonnen zu verkleiden bzw. jene ihrer Körperteile, die sie offenbar als die bestentwickelten erachten, nicht nur den schreibenenden Jornalisten, sondern auch Fernsehkameras zu präsentieren.

Nach der Abreise des Papstes konstatierten die Medien, dass sein Besuch Deutschland "enttäuscht" hatte. So bleibt es etwa beim Zölibat in der katholischen Kirche - lotterige Frauen müssen sich darüber weiterhin ärgern, was sich wahrscheinlich auf ihre Partizipationswünsche negativ auswirkt. Trotz der Deutschlandreise Benedikts XVI. findet auch keine Vereinigung der christlichen Kirchen statt, weshalb in absehbarer Zukunft kein Deutschland-Besuch eines bärtigen Papstes zu erwarten ist, der von seiner Gemahlin begleitet sein würde. Zudem bleibt die katholische Kirche bei der Ablehnung der Ehescheidung. Deshalb ist nicht schnell damit zu rechnen, dass ein Papst im Gespräch mit Günther Jauch über seine Eheprobleme plaudern würde, obwohl sich Deutschland ein anspruchsvolles Gespräch dieser Art seit Langem wünscht.

Irgendwie ist Benedikt XVI. ein Spielverderber. Als hätte er all diese Wünsche und Erwartungen nicht ernst genommen, behauptete er, dass die katholische Kirche mehr Glauben und mehr Vatikan-Treue als Reformen braucht. Und er deutete an, dass mehr Glauben sogar katholischen Priestern nicht schaden würde, auch wenn man an die zahlreichen Pädophilen-Skandale in der katholischen Glaubensgemeinschaft denkt.

Last but not least: Wenn es sich um die erwähnten Götzen handelt, so empfahl Benedikt den Besitzenden, mit ihrem Geld verantwortungsvoll umzugehen. Alle mahnte er wiederum an, den Spaß nicht zum Sinn ihres Lebens zu erheben. Und über die deutsche Fußballnationalmannschaft hat er gar nicht gesprochen, dafür aber mit der Regierungschefing über das ihm offenbar wesentlich wichtigere Thema: Europa.

Trotz der ganzen Enttäuschung stimmt es aber keineswegs, dass Benedikt XVI. die Menschen nicht liebt. Es ist zudem nicht wahr, dass sich Joseph Ratzinger von Deutschland abgewendet hatte. Mit seinem Besuch hat er doch bewiesen, dass seine Liebe zu den Deutschen und zu Deutschland beinahe unermäßlich ist. Wäre es anders, hätte er es sich nicht zugemutet, mit seiner Botschaft ausgerechnet in dieses Land zu kommen.

PS. Der Titel dieses Beitrages hat nichts mit dessen Inhalt zu tun. Der Beitrag war früher "Liebt Benedigt XVI. Deutschland?" betitelt und wurde überhaupt nicht gelesen. Deshalb wurde der Titel verändert.

27.08.2011

Merkel, Kohl, Opportunismus und Europa

Angela Merkel will an der Macht bleiben, zumal bei aller Schwäche ihrer Partei die Opposition keineswegs exzellente Chancen hat, sie als Kanzlerin abzulösen. Der Preis für ihren Machtverbleib ist aber sehr hoch. Merkel sieht sich gezwungen, dem Volk, das die Ernsthaftigkeit der augenblicklichen Krise nicht zu begreifen vermag bzw. willens ist, nach dem Mund zu reden. Den meisten Deutschen scheint nämlich nur eines wichtig zu sein: Deutschland soll möglichst kein Geld für die Euro-Rettung aufbringen.

Mit dieser hierzulande typischen pekuniaren politischen Grundhaltung rächt sich der "demokratische Opportunismus" der politischen Klasse, die im vorangegangenen Jahrzehnt nichts getan hat, um zumindest junge Deutsche geistig zu europäisieren. Ganz im Gegenteil: Seit der Regierungszeit Gerhard Schröders spielen die Regierenden mit der Bevölkerung schon ganz offen ein nationales Spiel, während sie sich klammheimlich um eine Vertiefung der europäischen Integration bemühen. Dem Volk wird die nationale Übergröße vorgegaukelt, weil die Pflege der nationalen Selbstgefälligkeit auch in Demokratien dem Machterhalt zugute kommt. Die europäische Integration wird wiederum von den gleichen Regierenden als der beste Weg zum Wohlstand und Sicherheit betrachtet und - betrieben. Solange die Wirtschaft läuft, der Auslandsurlaub und das neue Auto bezahlbar sind, so lange kann eine geistig durch und durch auf den materiellen Erfolg fixierte Gesellschaft diesen Spagat übersehen. In Krisenzeiten jedoch, wenn in der Bevölkerung Emotionen Oberhand gewinnen, kann dieser Spagat als das wahrgenommen werden, was er ist: die Doppelzüngigkeit der demokratischen Elite.

Nun meldet sich durch den Opportunismus seiner Partei offenbar stark verunsicherte Helmut Kohl zu Wort und wirft der Regierungschefin Prinzipienlosigkeit vor, worunter er die Abwendung vom Westen und den fehlenden europäischen Geist versteht - beide übrigens engstirnig nationalistisch motiviert. Darauf reagieren ausgerechnet die Gegner der EU-Integration mit Jubel, und zwar nicht nur in der Politik (CDU/CSU), sondern auch in anderen meinungsbildenden Kreisen. Sollen diese Liebhaber der DM und übrige vorgestrige Nationalisten in der politischen Elite der Bundesrepublik bestimmend werden, wird das "Kohl'sche Europa" - mit der Zustimmung der Volksmehrheit - tatsächlich zerstört. Der Verlust der europäischen Währung wird Deutschland dann ungleich mehr kosten als deren Rettung. Dies ist aber nur halb so schlimm, weil sowohl das Volk als auch seine Eliten diese Entwicklung verdient haben werden.

Geradezu beiläufig wird jedoch wesentlich Wichtigeres zerstört: die Europäische Union. Vielleicht wird sich dann die Prophezeihung eines klugen Amerikaners bewahrheiten, die er vor einigen Jahren formuliert hat: "If Europe shall die, Germany will have killed it".

22.08.2011

Das Weimarer Dreieck wird 20 Jahre alt, aber sein Sinn ist mittlerweile ungewiss

Als Polen 1989 seine im September 1939 verlorene Freiheit wieder gewonnen hatte, war es ähnlich bankrott wie Griechenland heute. Auch damals war es problematisch, einen Staat bankrott zu nennen. Erstaunlicherweise ist den Polen am Ende der kommunistischen Ära die Katastrophe ihrer Volkswirtschaft verborgen geblieben. Denn die mit dem Ende 1989 angegangenen Systemwechsel verbundenen Hoffnungen haben die Aufmerksamkeit von der schier trostlosen ökonomischen Lage abgelenkt.
Es kam hinzu, dass sich die polnische Nation als der Sieger in einem langen Kampf gegen den Kommunismus fühlte und als ein solcher von den westlichen Eliten wahrgenommen wurde. Diese Hochschätzung der Polen wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass sie nach Bevölkerungszahl, Territorium und Wirtschaftspotenzial das größte sich gerade befreiende Volk Zentraleuropas darstellten. Einen Ausdruck dieses mit dem ökonomischen Bankrott krass kontrastierenden Respekts stellte nicht zuletzt die Tatsache dar, dass am 28. August 1991 die Außenminister Deutschlands und Frankreichs – damals hatten noch bedeutende Persönlichkeiten diese Ämter inne – nach einem Treffen mit ihrem polnischen Kollegen in Weimar beschlossen, diese Konsultationen in Zukunft fortzusetzen. So wurde das „Weimarer Dreieck“ geboren, das gemäß den offiziellen Verlautbarungen seiner seitdem zahlreichen Treffen sowohl den Interessen der involvierten Staaten als auch Europas dienen sollte.
In Deutschland und Frankreich stellte das Weimarer Dreieck von vornherein eine Eliteneinrichtung dar. Soziologische Untersuchungen belegen, dass es zu keinem Zeitpunkt vermochte, die besonders bei den Deutschen gegenüber den Polen historisch gewachsenen negativen Stereotypen zu revidieren. Das in Deutschland populärste Bild des Polen als des geborenen Diebes („heute gestohlen, morgen in Polen“), ergänzt um das beinahe komplette Unwissen der Franzosen über das östlichste Land des Dreiecks, besteht weiterhin. An den polnischen Einstellungen gegenüber den zwei größeren Völkern kann man wiederum alle Komplexe studieren, die einer Nation im Vergleich zu den besser entwickelten Völkern nur so eigen sein können. Es verwundert daher nicht, dass so gut wie niemand in Deutschland und Frankreich weiß, was das Weimarer Dreieck ist, während dieses die Polen vermeintlich aufwertende Gremium dem durchschnittlichen polnischen Staatsbürger schon ein Begriff ist.
Es ist schwer zu sagen, für welchen Typus Institution das Weimarer Dreieck repräsentativ ist. Da es kein Budget und auch keine institutionalisierte Macht hat, hätte man sich vielleicht noch auf die unverbindliche Formel „Konsultationsforum“ einigen können. Ansonsten ist an ihm alles ungewiss bzw. variabel. Sogar seine Zusammensetzung steht nicht fest. Wie gesagt, es begann mit den Außenministern und auf dieser Ebene waren die Treffen am häufigsten sowie am seriösesten. Es gab aber auch viele Konsultationen anderer Minister und Regierungsbeamten. Bereits im Jahre 1993 fanden sich zudem die Staatsoberhäupter des Dreiecks zusammen. Danach häuften sich die Begegnungen der deutschen Regierungschefs mit den Präsidenten der zwei übrigen Staaten. Warum die Polen auch nach der späten Verabschiedung ihrer Verfassung (1997), die die außenpolitische Richtlinienkompetenz trotz aller verfassungsrechtlichen Zweifel bei der Regierung ansiedelt, zu den Treffen weiterhin das Staatsoberhaupt schicken, ist unverständlich. Auch im Februar dieses Jahres begegneten Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in Warschau dem polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, obgleich es letztlich mehr im Interesse Polens als in jenem Deutschlands oder Frankreichs liegt, das Forum politisch aufwerten.
Eine Struktur wie das Weimarer Dreieck mag zwar für seine Legitimation „Europa“ beanspruchen, aber seinem Wesen nach bleibt es doch ein nationalstaatlicher Versuch, auf einigen Politikfeldern Dreiergleichschritt zu erreichen. Die rituellen Europa-Phrasen, von denen es in den offiziellen Kommuniqués stets nur so wimmelt, dienen dazu, das Fehlen der europäischen Idee zu verschleiern. Die Heterogenität des Dreiecks erscheint in diesem Zusammenhang als seine Schwäche, weil die nationalen Interessen und Perzeptionen sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. So bastelt Frankreich an „seiner“ Mittelmeerunion und engagiert sich kaum im Osten des Kontinents, während Deutschland auf „seine“ Wirtschaftsexpansion im autoritären Russland (genannt „Modernisierungshilfe“) geradezu versessen zu sein scheint. Polen schließlich ist an „seiner“ Sicherheit und deshalb primär an der europäischen Ostpolitik interessiert, wobei es im autoritären und neoimperialen Russland eine stetige Gefahrenquelle erkennt. In Polen ist übrigens die kontinentale Vormachtstellung Deutschlands und Frankreichs durchaus umstritten, weil beide dort als prorussisch und teilweise anti-atlantisch gelten. Vor diesem Hintergrund hat das Dreieck keine Chance, als eine wirkungsvolle Institution langfristig zu bestehen, wenn es sich kein strategisches Ziel zulegt. Dieses soll möglichst jenseits jener Reibungsflächen gesetzt werden, die die auseinander differierenden Nationalinteressen produzieren.
Am funktionsfähigsten erschien das Weimarer Dreieck, als Polen noch nach der Mitgliedschaft in der Europäischen Union strebte und dabei von Deutschland sowie Frankreich unterstützt wurde. Diese Zusammenarbeit fügte sich noch in das wahrlich europäische Ziel der Union – deren Osterweiterung. Da bot es sich für die zwei die Union de facto führenden Staaten an, mit dem wichtigsten EU-Beitrittsanwärter intensiv zu kommunizieren. Seit der Osterweiterung der Union im Mai 2004 gibt es kein gemeinsames Ziel mehr.
Gewiss kann es bei der Suche nach einer neuen sinnstiftenden Aufgabe nicht darum gehen, Polen dem meistens ungeschickt verborgenen deutsch-französischen EU-Direktoriat hinzuzufügen. Obwohl Warschau, das im August 1991 noch außerstande war, seine Auslandsschulden zu bedienen, heute über eine sich passabel entwickelnde Volkswirtschaft verfügt, wird es als die (in etwa) siebte „Wirtschaftsmacht“ der EU wahrscheinlich niemals zur europäischen Führungsmacht aufsteigen. Es zeugt vom politischen Realismus, dass nur die wenigsten Polen einer gegenteiligen Meinung sind. Was kann aber dann das polnische Interesse am Weimarer Dreieck sein?
Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends ist die EU-Begeisterung in Polen nach wie vor so stark, dass die polnischen Eliten in ihrem Lande offensichtlich auf keinen ernstzunehmenden Widerstand stoßen würden, sollten sie den mit der echten Demokratisierung der EU unausweichlich verbundenen Aufbau des europäischen Staates voranzutreiben versuchen. Gerade das überschaubare und trotzdem heterogene Weimarer Dreieck böte sich als ein Forum an, in dessen Rahmen die strategischen Entwicklungsfragen („Finalität“) der Union erörtert werden könnten. Obwohl sich Deutschland und Frankreich in Normalzeiten mit der informellen Machtverteilung innerhalb der Union zufrieden geben, würden sie sich einer solchen strategischen Diskussion wahrscheinlich nicht entziehen wollen. Zur Erarbeitung eines Konzeptes für einen föderalen demokratischen Souverän mit einer Armee, Unionspolizei und Außenpolitik, die allesamt unabhängig vom Europäischen Rat und von Nationalstaaten sind, scheinen jedoch die polnischen Eliten (schon unter Kompetenzgesichtspunkten) heutzutage außerstande zu sein.
So erschöpft sich der europäische Beitrag Warschaus realiter im lediglich vordergrundig europäischen Einsatz für die Ukraine und die Demokratisierung von Belarus, was Polen auf diesem Forum gelegentlich anspricht. Denn Warschau tritt für die EU-Zukunft seiner Nachbarn nicht um der EU bzw. Europas willen ein. Vielmehr geht es um seine – zugegebenermaßen auch heute berechtigten – Russland-Ängste, gegen die nichts so gut wirken würde wie die europäisch (und selbstverständlich atlantisch) abgesicherte Unabhängigkeit dieser Staaten. Dabei hat Polen selbstverständlich nicht die Kraft, die Deutschen und Franzosen zur Aufgabe ihrer je national motivierten Russland-Politik zu bewegen.
Die polnische Schwäche geht freilich nicht nur auf das letztlich überschaubare Potenzial des Landes zurück. Teilweise hat sich Polen aus dem Kreis der europäischen Entscheidungsträger selbst heraus manövriert, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass Warschau offenbar die Logik der europäischen Integration nicht verstanden hat. Da in Europa nicht der Europäismus, sondern der Nationalismus (präziser: die Nationalismen) vorherrscht, wird diese Integration neben den Nationalinteressen vor allem durch beiläufige Sachzwänge („Spillover“) sowie – besonders – durch Krisen vorangetrieben. So ergab sich der größte europäische Integrationserfolg der letzten Jahrzehnte, der Euro, aus jener Krise, die – ausgerechnet in französischen Augen – die deutsche Wiedervereinigung darstellte. Heutzutage revolutioniert wiederum die Griechenlandkrise die EU viel stärker als die jahrelangen Querelen mit dem faden „europäischen Verfassungsprojekt“. Diese Krise hat das Euroland im Nu zum Machtzentrum der EU erhoben, über das zuvor ein eher langweiliger Politikerstreit geführt wurde, in dem Polen stets gegen die Etablierung einer „EU-Kerngruppe“ witterte. Auch die von Warschau immer abgelehnten unterschiedlichen Integrationsgeschwindigkeiten sind nun infolge der Griechenlandkrise Realität geworden. Da Warschau es versäumt hat, direkt nach seinem EU-Beitritt den Euro einzuführen, muss es heute mit dem Umstand leben, dass es gerade während seiner Ratspräsidentschaft am Entscheidungstisch des Eurolandes nicht erwünscht ist. Das Weimarer Dreieck vermag an all diesen heute zentralen Problemen der polnischen Europapolitik nichts zu ändern.
Schon seit dem EU-Beitritt trennen sich in Polen die Geister über den Sinn des Weimarer Dreiecks. Es ist kein Zufall, dass das Treffen in Warschau in der polnischen Öffentlichkeit vor allem wegen der schlechten Organisation und des tollpatschigen Auftritts des polnischen Staatsoberhaupts Schlagzeilen machte. Dabei nimmt das polnische Ringen nach einer neuen Legitimation für die Weiterexistenz des Dreiecks zuweilen selbstverleugnende Formen an. Nur so kann man den ursprünglich durch den in Polen ausgesprochen unbeliebten Gerhard Schröder eingebrachten, später von Sarkozy übernommenen und in Warschau von Komorowski offiziell vorgetragenen Vorstoß verstehen, den russischen Präsidenten zum Dreieck einzuladen. Dass der von Deutschland und Frankreich angestrebten Einbeziehung Russlands die Marginalisierung Warschaus (von den Interessen seiner anderen östlichen Anrainerstaaten ganz zu schweigen) folgen muss, wird freilich jede polnische Führung irgendwann erkennen.
Auch der Ruf nach der Abschaffung des Dreiecks ist in Polen zu vernehmen. Das Fehlen einer nationalen Aufgabe, für die es lohnen würde, die deutschen und die französischen Partner zu gewinnen, wird immer wieder bemängelt. Nebenbei bemerkt: Die Einführung des Euro könnte gewiss als eine solche Aufgabe fungieren, aber den schnellen Euro will heutzutage in Polen eigentlich niemand. Für die andere, diesmal wahrlich europäische Idee – den Aufbau der gemeinsamen europäischen Streitkräfte – wären wiederum wichtige polnische Politiker problemlos zu gewinnen. Auf diesem Feld bevorzugt jedoch die polnische Regierung die auch aus Deutschland und Frankreich bekannte nationale Streitkräftereform.
Es scheint also, dass das Weimarer Dreieck nur dann seine „neue Zukunft“ im Osten findet, wenn sich Polen von seinen ostpolitischen Prioritäten dauerhaft verabschiedet. Selbst in diesem Fall bleibt es jedoch kaum etwas mehr als ein vages, unzureichend strukturiertes Diskussionsgremium, das sich nur dann essenziellen Problemen Europas zuwenden könnte, wenn die Deutschen, die Franzosen und die Polen tatsächlich so werden würden wie sie sich lautstark ausgeben – europäisch.
dieser artikel wurde von der FAZ abgelehnt
dafür aber von seriösen und nicht nationalistischen >Europa bbe< veröffentlicht:
http://www.b-b-e.de/eunewsletter/bbe-europa-nachrichten-newsletter-fuer-engagement-und-partizipation-nr-9-vom-5112013/

03.07.2011

Die Ukraine und die labile Kondition des reisenden Westlers

Einige Tage dauernder Aufenthalt in der Ukraine reicht aus, um die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten Europas zu erkennen und zuweilen schmerzhaft (obgleich niemals auf langweilige Art und Weise) zu spüren. Man bestellt das Essen - wo auch immer und wie teuer auch immer - und muss damit rechnen, ewig warten zu müssen, jedenfalls viel länger als etwa in der Dienstleistungswüste Regensburg, wo (gemäß unverbindlichen Gesprächen mit den in Restaurants Beschäftigten) mittlerweile fast ausschließlich illegal kochende Ausländer und studentische Bedienung die Gastronomie schmeißen. Um wiederum in ein Hotel einzuziehen, muss man in eigener Sprache ein idiotisches Formular ausfüllen, auf dem neben dem Namen und der Adresse, der Passnummer auch der Zweck der Reise einzutragen ist. Diese Pflicht wird weder durch den Umstand sinnvoller, dass in der Hotelrezeption normalerweise keiner Fremdsprachen spricht, noch durch die Tatsache weniger absurd, dass es im gleichen Land mehrere Hotels gibt, wo auf dieses direkt aus dem Kommunismus kommende Prozedere ganz verzichtet wird.

Ja, der Osten unseres Kontinents ist irgendwie unbestimmt, schwer fassbar, kaum durchdrungen durch die Rationalität und die klar erkennbaren: Ordnung sowie Organisation. Der Spießer aus dem Westen kann darüber nur hochnässig meckern. Er wird sagen: "Bei uns in Deutschland gibt es keine Ziegen und Kühe auf der Straße, das ist zu gefährlich". Oder: "Bei uns wartet man nicht so lange auf das Essen im Restaurant". Er wird zudem monieren: "Bei uns kriegt man das für sein Geld, was es wert ist". Am Ende wird er sich aber mit der Situation mit dem unschlagbar "westlichen" Argument versöhnen: "Bei uns ist es aber schon viel teurer als hier". Dieser Mensch wird nach einigen Tagen in sein Heimatland zurückkommen und genauso dumm bleiben, wie er war, als er seine Ukraine-Reise antrat.

Der denkende westliche Besucher wird sich dagegen auf das ihm unbekannte Land einlassen. Und dann wird er die Gelegenheit haben, sich für einige Zeit von den eigenen Gewohnheiten zu lösen und dadurch auf eine Reise nicht nur in die Ukraine, sondern auch zu sich selbst zu begeben. Wie ist das möglich? Das kann man mit einem Beispiel des UPA-Denkmals in Lemberg (Lviv) erklären. Um dieses Beispiel verständlich zu machen, muss allerdings zuerst ein bißchen historisch ausgeholt werden.

"UPA" das ist die Abkürzung für die "Ukrainische Aufständische Armee", die im Zweiten Weltkrieg den militärischen Arm der Organisation der Ukrainischen Nationalisten (UONb) darstellte, der u.a. die heute in der Westukraine als Nationalhelden verehrten Stepan Bandera (das kleine "b" in der Abkürzung "UONb" weist eben auf Bandera als den Führer der Organisation hin), Roman Schuhewytsch sowie der erste Oberbefehlshaber der UPA, Dmytro Kljatschkiwskij, angehörten. Den beträchtlichen Teil der UPA-Soldaten bildeten die Deserteure aus der ukrainischen Polizei. Diese war nach der Besatzung des Landes von den Deutschen geschaffen worden, die zwar es nicht vor gehabt hatten, einen unabhängigen ukrainischen Staat aufzubauen und deshalb sogar Stepan Bandera in Sachsenhausen verhafteten. Die Okkupanten griffen jedoch gerne auf die Unterstützung der Ukrainer, auch mittels der besagten Polizeieinheiten, etwa beim Holocaust und bei der Verfolgung von Polen, zurück. Mit der gezielten Bevorzugung der Ukrainer gelang es den Deutschen, Animositäten zwischen den Ethnien und Nationen der Ukraine für sich zu nutzen.

Die große Welle der Fahnenflucht der ukrainischen Polizisten begann, nachdem die UONb erkannt hatte, dass Deutschland den Krieg verlieren würde - es war Anfang 1943. Eben damals (Februar 1943) hat die UONb aufgehört, Hitler-Gruss zu benutzen, und befahl der UPA, gegen das deutsche Militär vorzugehen. Die Deutschen waren jedoch in den von Ihnen besetzten Städten für die UPA zu stark, weshalb deren Hauptbeschäftigung im Jahre 1943 darin bestand, auf den Befehl von Kljatschkiwskij hin alle in Wolhynien (eine Region in der Westukraine) lebenden Polen umzubringen. In Bezug auf das südlich von Wolhynien liegende Galizien wurde demgegenüber ein "humanerer" Befehl gegeben: die polnischen Frauen und Kinder sollten verschont werden (selen hat sich die UPA bei der Durchführung ihrer galizischen Aktionen an diese Einschränkung gehalten). Das Wolhynien-Massaker war aus der Sicht der UPA ein großer "Erfolg": Es hat gemäß den Untersuchungen der polnischen und ukrainischen Historiker zwischen 60 000 und 100 000 polnische Zivilisten das Leben gekostet. Es verlief so grausam (sehr oft wurden Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise ebenso wie Männer gefoltert, bevor Ihnen der Gnadeschlag mit Axt, Stein oder Mistgabel den Kopf oder Wirbelsäule endgültig zerschmetterte), dass es auch heute eigentlich nicht möglich ist, Berichte darüber zu lesen.

Was hat das alles mit dem Entdecken der Unbestimmtheit des Ostens und der osteuropäischen Reise zu sich selbst zu tun? Schon etwas. Wenn man nämlich über die Verbrechen der UPA Bescheid weiß, ist man zumindest äußerst verwundert, in der wunderbaren Stadt Lemberg an der Außenwand des wunderbaren Lytschakiwsky-Friedhofs ein gar nicht wunderbares Monument vorzufinden, das - wie ich vermute - nach der Jahrtausendwende zu Ehren der UPA aufgestellt worden ist.

Das Monument stellt eine lange, mit glänzenden Platten abgedeckte Wand dar, in deren Zentrum der goldene Dreizahn - das ukrainische Wappen - montiert ist (siehe Foto unten). Vor der Wand stehen Kreuze an den symbolischen Gräbern der "unbekannten Soldaten" der UPA.

Sobald sich der Betrachter der Wand angenähert hat, weicht seine Verwunderung über diese Ehrenbietung dem Staunen über die Billigkeit des Denkmals. Die Platten entpuppen sich als große Fliesen vom irgendeinen Baumaterial-Discounter, die woanders bestenfalls eine öffentliche Toilette schmücken würden. Auch die Bauweise erweist sich als unprofessionell, was nicht zuletzt eine bereits abgefallene Platte demonstriert.

Schaut man sich das Werk wiederum von hinten an, sieht man die unverputzte Hinterwand, die aus einem derart schäbigen Material gebaut wurde, dass Ytong im Vergleich dazu Marmor-Qualitäten aufweist (siehe unten).


Spätestens bei der Betrachtung dieser Hinterwand beginnt der Besucher zu hoffen, dass das Denkmal doch nicht umfällt, obwohl er sich bei dessen erstem Anblick noch nichts mehr als eben das gewünscht hatte.

Ein Denkmal zu Ehren einer Töte-Gezielt-Zivilisten-Armee, das weniger empört als es Mitleid für das schäbig zusammengeklebte Baumaterial hervorruft - das ist für den Osten Europas symptomatisch. Die schiefe Form und der schiefe Inhalt kommen irgendwie zusammen. Ungeachtet aller positiven Entwicklungen ist der europäische Osten auch nach dem Kommunismus imstande, Werke zu schaffen, die die westlichen geistigen und materiellen Standards geradezu verhöhnen. Lässt sich der westliche Besucher auf diese Wirklichkeit ein, verliert er seine kulturellen Koordinaten: Seine moralisch bzw. (und) intellektuell motivierte Empörung über das Denkmal für die UPA kann ihm plötzlich weniger wichtig werden als der Impuls, das schäbig gebaute Monument doch noch zu retten (an diesem Impuls ändert selbst die Wüdigung zweier ukrainischen SS-Divisionen mit einem anderen Denkmal auf dem Gelände des selben Friedhofs - siehe Bild links unten - nichts).

Die schnelle Leichtigkeit, mit der der Reisende in den Zustand einer derartigen Unsicherheit versetzt wird, wirft die Frage auf, was wir Menschen sind. Die ukrainische Erfahrung stützt jedenfalls die These, dass wir beinahe ausschließlich Produkte der jeweils kulturell bedingten Sozialisierung darstellen. Treten wir aus dem Kontext unserer Sozialisierung heraus, drohen wir innerlich ins Wanken zu geraten. Hoffentlich ist dem doch nicht so...

Alleine aber um solche Fragen aufwerfen zu können, lohnt es in die Ukraine, der übrigens aus politischen Gründen endlich die EU-Beitrittsperspektive gegeben werden sollte, zu fahren. Damit man sich freilich nicht ausschließlich über Kühe und Ziegen auf den ukrainischen Straßen wundert, soll man vor der Abreise schon ein gutes Buch über das Land gelesen haben. So ist es im Leben: Ohne Kopfarbeit keine Erkenntnis. Und kaufen lässt sich die Erkenntnis ohnehin nicht, selbst in einem Niedriglohnland.

10.06.2011

Windräder und Solaranlagen sind hässlich

Diesmal ein sehr persönliches Statement: Es geht nicht um den Verfassungsvertrag für was auch immer, nicht um den Nationalismus und auch nicht um die Zukunft Europas...

Die durch und nach Fukushima erzeugte Hysterie um Atomkraftwerke ist verständlich, zumal es schon die Tschernobyl-Katastrophe gegeben hatte. Man kann die Angst - doch "nur" ein Gefühl - der Menschen nachvollziehen, obgleich davon auszugehen ist, dass zwischen 1986 (Tschernobyl) und 2011(Fukushima) die fossilen Energieträger - infolge ihrer Gifte, die so oder so in die Umwelt und in unsere Körper eindringen - wesentlich mehr Opfer gefordert haben als die GAUs und übrigen Havarien in den Atomkraftwerken. Diese fossilen Energieträger decken nach wie vor den überwiegenden Großteil des deutschen Energiebedarfs, während auf der EU-Ebene die Bundesrepublik, wo bekanntlich besonders Großautos einen besonderen Schutz der Politik genießen, radikale ökologische Verbesserungen eher bremst.

Auch die Politiker haben allerdings ein Quäntchen Verständnis für ihren Opportunismus verdient. In der Ära des Populismus müssen sie um ihre so genannte Glaubwürdigkeit ringen, und zwar ungeachtet dessen, dass sich das Volk selbst keineswegs aus Menschen zusammensetzt, die immer glaubwürdig wirken. So scheint das durch das ferne Fukushima so stark verängstigte deutsche Volk die Tatsache nichts anzugehen, dass jene Bundesregierung, die in gut zehn Jahren Deutschland "atomfrei" machen will, immer noch an Hermes-Bürgschaften für jene deutschen Firmen festhält, die in fernen Ländern (wie Brasilien) genau solche Atomkraftanlagen bauen, die hierzulande abgeschaltet werden (sollen). Für diese Atomkraftwerkexporte gilt auch aus der Sicht des "Otto-Normalverbrauchers" das schlicht-selbstgefällige Motto: "Die deutschen Atomkraftwerke sind die sichersten der Welt".

Was aber schon verwundern muss, ist der de facto fehlende Widerstand gegen die bereits sehr fortgeschrittene Verunstaltung der Landschaft mit Windrädern und Solaranlagen. Es sei nur auf die Banalität hingewiesen, dass Deutschland in der Zeit des "Witschaftswunders" ohnehin nicht gerade schön (wieder) aufgebaut worden ist. Hässliche Wohnblocks wurden genauso unter den Kommunisten in der DDR wie unter den freiheitlichen Demokraten in der Bundesrepublik hochgezogen, wenngleich die Erstgenannten gezielt Bruchbudenqualität bevorzugten. Wenn jemand Dortmund oder Mannheim besucht hat, und auch die "Altstadt" von Köln, vom Neupfarrplatz in Regensburg (samt dem Kaufhof und der Sparkasse) ganz zu schweigen, der weiß genau, was gemeint ist.

Und dieses Deutschland der verpassten ästhetischen Chancen lässt sich jetzt auf eine konsequente Landschaftsverunstaltung mittels Technologien ein, die schon auf den ersten Blick unausgereift wirken. Eigentlich soll auch diese Entwicklung nicht verwundern - sie zeugt eher von Kontinuität.

Wer glaubt, die Ästethik sei bloß eine Chimäre, sei daran erinnert, dass dies im zumindest gleichen Maße für die sichere bzw. saubere Energieversorgung gilt. Wie dem auch sei: Diese Sicherheit bzw. "Sauberkeit" wird gewiss nicht dadurch gewährleistet, dass riesige Land- und Wasserflächen systematisch zerstört werden, um einige Prozent des Landesstrombedarfs zu erzeugen.

02.06.2011

Präambel zum Lissaboner Vertrag

Es ist die latente irrational-antieuropäische – d.h. zutiefst nationalistische – Grundstimmung, die das Projekt des so genannten europäischen Verfassungsvertrags umgeworfen hatte. Die populistische Neigung der Politiker in den europäischen Staaten kam hinzu. Wir erinnern uns: Das Projekt scheiterte an Referenden in Frankreich und den Niederlanden (in Antizipation des ähnlichen Ausgangs hat man in Deutschland vorsorglich auf eine Volksabstimmung über den „Verfassungsvertrag für Europa“ verzichtet). Nach dem Scheitern hat man unter der deutschen Ratspräsidentschaft als Notlösung den „EU-Reformvertrag“ angestrebt, der unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft 2007 tatsächlich angenommen und Anfang Dezember 2009 auch rechtskräftig wurde. Erstaunlicherweise ist es mit dem mittlerweile „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ genannten Lissaboner Kompromiss gelungen, die wesentlichen Inhalte (nicht aber die Symbolik und Übersichtlichkeit) des „Verfassungsvertrages“ zu retten. Wie war so etwas möglich? Nur eine Antwort kann richtig sein: Entweder war der „Verfassungsvertrag“ keine Verfassung oder ist der Lissaboner Vertrag eine.

Die zweite Antwort wäre zu schön, um wahr zu sein. In Wahrheit hatten die politischen Eliten niemals beabsichtigt, der EU eine echte Verfassung, die bekanntlich ein Attribut der staatlichen Souveränität ist, zu geben. Vielmehr wollten sie mit dem Wort „Verfassung“ eine qualitative EU-Reform vortäuschen, ohne die Union zu demokratisieren. Gemessen an diesem Wort war das Ziel des „Verfassungsvertrages“ recht bescheiden: Das schier unüberschaubare EU-Regelwerk sollte den Erfordernissen der erweiterten EU angepasst und vereinfacht werden. Die bisherige teils informelle Verteilung der Macht unter den Nationalstaaten sollte aber nur unwesentlich, und zwar zugunsten Deutschlands ("doppelte Mehrheit"), verändert werden. Die Demokratisierung hätte dagegen die Macht der im Europäischen Rat vertretenen Nationalstaaten (darunter Deutschlands) zugunsten des Europäischen Parlaments und der Kommission beträchtlich reduzieren müssen.

Müssen die Europäer nach dem langjährigen (und irgendwie doch langweiligen) Horror mit der „europäischen Verfassungsgebung“ sowie mit der Ratifizierung des Lissaboner Vertrages (Irland) die Wirklichkeit verleugnen und diesen nun gut heißen? Müssen sie sich mit dem nicht-demokratischen institutionellen Durcheinander der EU nur deshalb zufrieden geben, weil auf absehbare Zeit keine Politiker den Mut aufbringen werden, eine echte demokratische Verfassung vorzubereiten und zu verabschieden? Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung könnte mit der dem Lissaboner Vertrag hinzuzufügenden Präambel getan werden:

"Wir Europäer, diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte und Schönheit glauben, wie auch jene, die diesen Glauben nicht teilen, und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, sind uns unserer ethnischen und nationalen Unterschiede bewusst. Wir wissen aus unserer Geschichte, dass unsere Vielfalt nur dann große Leistungen in Kultur, Politik und Wirtschaft hervorbringen kann, wenn wir in der durch Recht geschützten Freiheit leben. Wir haben uns diesen Vertrag gegeben, damit wir unsere Einheit in Vielfalt ausleben können, und zugleich im Bestreben, uns näher zu kommen.

Wir sind uns bewusst, dass unsere Union demokratisch werden muss. Damit die Demokratisierung geordnet verläuft, wollen wir alle drei Jahre einen Konvent mit der Novellierung dieses Vertrages beauftragen, und zwar mit dem Ziel, ihn eines Tages zur Verfassung der Europäischen Union umzuwandeln. Über die Annahme der durch den jeweiligen Konvent vorgelegten Novellen sollen unsere Vertreter im Europäi­schen Parlament befinden".

Nicht zu verwirklichen! Utopisch! Falsch!

Wirklich?

25.05.2011

Warum dieses (dieser) Blog?

Dieser Post soll eigentlich als der allererste des Blogs publiziert gewesen sein. Wie soll man aber einen Post ausgerechnet mit diesem Titel schreiben, wenn man nicht weiß, ob jemand Lust haben wird, diesen URL überhaupt anzuklicken? Daher war die Reihenfolge so wie sie war: Zuerst einige Texte veröffentlichen, gucken, ob die Posts gelesen werden, und anschließend eine Art Begrüßung der Leser plazieren.

Immerhin wurde das (oder "der" - nach Wörterbüchern ist beides zulässig) Blog binnen der ersten zwei Wochen seiner Existenz (darunter drei Sperrtage wegen eines unbegründeten Google-Verdachts auf ein Spam-Vergehen) gut 400 Mal gewählt. Anlass genug, um diesen "Begrüßungspost" zu schreiben.

In den letzten zwei Jahren wollten mehrere Zeitungen drei Artikel nicht veröffentlichen, die mit geringfügigen Änderungen hier als erste publiziert worden sind. Der Platz in gedruckter Presse wird offenbar mit jedem Jahr teurer. Da die Tages- und Wochenblätter immer weniger Reklame und Leser haben, die beide ins Internet abwandern (wenn sich jemand ein ipad kauft, wozu noch die Tageszeitung?), haben sie auch mehr Konkurrenzdruck und weniger Geld. Die Artikel der Außenseiter - für welche die Zeitungen, die sich selbst respektieren, auch ganz vernünftig zahlen - stellen unter diesen Bedingungen mittlerweile einen Kostenfaktor dar. Nicht zuletzt weshalb werden heutzutage die Außenseitertexte grundsätzlich nur dann veröffentlicht, wenn diese auch bestellt worden sind.

Das scheint leider auch für Meinungen zu gelten. Von der Linie der Redaktion abweichende Überzeugungen sind heute weniger willkommen als noch vor einigen Jahren. Denn die typische Redaktion will die eigene, meist ältere "Zielgruppe" nicht abschrecken - so kommt es dazu, dass z.B. die FAZ, eins eine solide, wenngleich niemals besonders gut gemachte Zeitung, so steif deutsch-national geworden ist, als hätten ihre Redakteure wirklich nicht verstanden, dass wir entweder in der Europäischen Union oder gar keine Zukunft haben werden. Ähnliche inhaltliche Versteifung ist auch bei ideologisch anders als die FAZ vorbestimmten  Blättern festzustellen. Auch sie werden offenbar vor allem für Opas und Omas aufgelegt, die jene Meinungen nicht revidieren können, die sie sich vor einem halben Jahrhundert (als sie mit 30 oder 40 die Uni verließen - in diesem Alter bekam man den Studeinabschluss vor der Umstellung auf Bachelor und Master) angeeignet hatten.

So ist es dazu gekommen, dass die allermeisten Gazetten wie Kartoffelsäcke auf dem Markt gehandelt werden. Diskussion und Meinungsaustausch finden - wenn überhaupt - in Leserbriefen statt. Unter diesen Umständen bietet sich einem das Internet als das Diskussionsforum. Es funktioniert immerhin ohne mehr oder weniger subtile Zensur seitens der Meinungshändler, die sich immer noch "Zeitungsredakteure" nennen. Ob sich dieses Forum allerdings für die hier vertretenen Meinungen als günstig erweist, wird sich noch zeigen. Schaun wir mal... Bis jetzt jedenfalls sind noch die - sehr erwünschten - Kommentare zu den Texten auf diesem Blog nicht zu sehen.

19.05.2011

Warum und wie das Bestseller-Buch von Thilo Sarrazin gekauft wird

Es ist wie ein Märchen, zumindest aus der Sicht von Sozialwissenschaftlern: Man schreibt ein Buch voller Statistiken, Tabellen und Fremdwörter, das dann von weit mehr als einer Million Menschen gekauft wird. Die Erklärung dafür, warum Max Weber Jahrzehnte gebraucht hat, um solch einen kommerziellen Erfolg posthum feiern zu können (wenn so etwas nur möglich wäre...) und Thilo Sarrazin nur einige Wochen, ist sehr einfach. Es gibt eben Bücher, die gekauft werden, ohne dass bei den Käufern die ernsthafte Absicht besteht, sie zu lesen. Das Buch von Thilo Sarrazin über das sich "abschaffende" Deutschland gehört zweifellos dazu.
Die Käufer gehören - das ist mittlerweile durch Untersuchungen bewiesen - allesamt der höheren, gut situierten Bildungsschicht an. Kaum ein "Bild"-Leser ist dabei. Altersmäßig handelt es sich um Menschen so ab dem dreißigsten Lebensjahr, wenngleich die 50-60-jährigen überwiegen. Und nur diese Tatsache, dass es sich bei den Käufern um die meinungsführende Elite des Landes handelt,  ist entsetzlich. Das Buch an sich ist es nicht. Denn es gibt viele uninteressante bzw. schlechte oder merkwürdige Bücher.
Die Menschen besorgen sich das Buch von Sarrazin nicht deshalb, weil die darin enthaltenen Thesen in Deutschland unbekannt sind. Auch die Tatsache stört sie offensichtlich nicht, dass das Buch  mit jeder neuen Auflage "politisch korrekter" zu werden scheint. Aktuell kann man da z.B. nichts mehr über die Gene der muslimischen Völker finden, deren "Mentalitäten" seien nun für die Zukunft Deutschlands bedrohlich. Die Käufer glauben aber nach wie vor zu spüren, was der Autor gemeint hat.
Sie fühlen sich wahrscheinlich wie in einem besetzten Land, in dem Sarrazin etwas geschrieben hat, was die Besatzer zu sagen verboten haben. Sie kaufen das Buch, um einen - aus ihrer Sicht - Tapferen zu unterstützen, der über die genetische Vorbestimmung des Leistungsvermögens ganzer Kulturwelten zu schreiben gewagt hatte. Diese Käufer müssen also zutiefst angstvolle Menschen sein, die über Ausländer nur unter vorgehaltener Hand herziehen und jetzt plötzlich erleben, dass einer aus ihrer Mitte endlich in der Öffentlichkeit die alte gute Rassenlehre zur Erklärung der Probleme dieses schönen Landes bemüht. Bedroht durch ein Parteiausschlussverfahren und die Kritik seitens der Menschen, die mit seinen Meinungen nicht einverstanden sind, brauche er Solidarität.
Und wenn es um das bürgerliche Engagement des typischen Vertreters der deutschen Bildungselite geht, so ist mit ihm nicht zu spaßen. Am Samstag vormittags, nach der Lektüre eines spannenden "Die Zeit"-Artikels über die Querellen der SPD  mit dem besagten Parteiausschlussverfahren wird vom Hausherren  das wöchentliche Ritual plötzlich ausgesetzt. "Nun reicht es".  Die für gewöhnlich folgende "FAZ"-Lektüre findet nicht mehr statt. Er marschiert erhobenen Hauptes zur Buchhandlung, wo sein erfreutes Auge das außergewöhnliche Buch darüber, wie man Deutschland vor dem Aussterben retten soll (man nehme weniger Araber sowie Türken und zeuge selbst Kinder), tonnenweise gestappelt vorfindet. Er kauft. Es kostet 24 €.

18.05.2011

Die Griechenlandkrise zeigt den Nationalismus der Europäer

Die Griechenlandkrise ruft nun auch Scharlatane auf. In den deutschen Medien werden zum Teil abenteuerliche Ideen propagiert, denen allesamt eine irrationale und für gewöhnlich ausschließlich engstirnig-nationale Ablehnung unserer gemeinsamen Währung zugrunde liegt: Es solle in der EU drei Währungssysteme geben, der Euro solle zu einem neuen Ecu werden, man solle zu den nationalen Währungen zurückkommen. Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei diesen Vorschlägen um die Ablehnung der gemeinsamen europäischen Währung. In der Tat wird damit das europäische Integrationsprojekt verworfen. Denn die Griechenlandkrise hat lediglich aufs Neue gezeigt, was die Hauptschwäche dieses Projekts ist: Der einseitig ökonomische Charakter der Union. Die ökonomische Integration der EU ist dabei mittlerweile so weit gediehen, dass sie - neben den bekannten großen Vorteilen, an die sich alle (auch die entschiedenen Kritiker des Projekts) wie selbstverständlich gewöhnt haben - auch Probleme produziert, die nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Dafür fehlen jedoch im institutionellen Wirrwarr der EU politische Instrumente. Deshalb gibt es die selbsternannten Führer der Union (speziell aus Frankreich und Deutschland), die es sich nicht genieren, in der Ära der Demokratie den Völkern Entscheidungen zu verkünden, die in verborgenen Krisensitzungen getroffen wurden. Die Völker wiederum, die auf diese Art manchmal zur Kasse gebeten werden, sind übrigens selber schuld. Oder genauer: ihre nationalen Eliten sind selber schuld. Nationalistisch bis ins Knochenmark, entbehren diese Eliten schlichtweg des Vermögens, sich einen föderalen europäischen Souverän vorzustellen. Und dies, obwohl solche Krisen wie die heutige für alle, die doch noch zum redlichen Denken imstande sind, nach einer politischen Großreform unserer Union geradezu schreit, die sowohl eine Demokratisierung als auch die Übertragung einiger wichtiger nationalstaatlicher Kompetenzen auf die EU bedeuten muss. Wer will aber auf diesem Kontinent der Selbstsüchtigen eine - diesmal echte - Diskussion über die - diesmal echte - europäische Verfassung?

"Weißrussland" - die Kulturtasche der deutschen Politiksprache

Es gibt ein populäres Wort, das an der Tatsache zweifeln lassen muss, dass Goethe für die deutsche Kultur tatsächlich wichtig ist – „Kulturtasche“. Ähnliche Wörter gibt es auch in der politischen Sprache der Deutschen. Eines davon ist „Weißrussland“. Die „Kulturtasche“ verleitet  zu Überlegungen darüber, was für die deutsche Kultur denn so entscheidend prägend sein sollte. Die unbekümmerte Benutzung des angeblichen Eigennamens „Weißrussland“ wirft wiederum eine Vielzahl von Fragen auf, die kein gutes Zeugnis von der Geographie-, Geschichts-, Deutsch- und Politikkompetenz sowie dem Vermögen abgeben, mit kleineren Völkern umzugehen.
Wahrscheinlich sogar die meisten Menschen hierzulande wissen gar nicht, dass das besagte Land, das nur ein paar Hundert Kilometer von der deutschen Ostgrenze entfernt ist, nicht ein Teil Russlands ist. Es heißt in Wahrheit „Belarus“. Das ca. zehn Mio. Bewohner zählende Belarus liegt auf der West-Ost-Achse zwischen Polen und Russland, grenzt im Norden an Litauen sowie Lettland und hat im Süden eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine.
Belarus  wird seit 1994 vom eigenwilligen Staatspräsidenten Aljaksandr Lukaschenka regiert. Dieser bis vor Kurzem auch in Russland sehr beliebte Politiker machte jahrelang keinen Hehl daraus, eine Union mit dem „großen Bruder“ wiederbeleben zu wollen. Offenbar hoffte er sogar, der Unionspräsident zu werden. Mit dem Aufstieg Wladimir Putins in Russland dürfen jedoch diese Hoffnungen verflogen sein. Da ihm die eigene Macht immer wichtiger war als das Wohl seines Landes, behielt er die Kommandostrukturen der Staatswirtschaft bei und duldet seit 1996 keine politische Opposition mehr. Über seine verächtliche Einstellung zur Demokratie und dem Westen kann es keinen Zweifel geben. Am 23. November 2006 sagte er z.B. im belarussischen Fernsehen: „[Die Ergebnisse der kurz zuvor abgehaltenen Präsidentschafts-] Wahlen haben wir gefälscht, ich habe das bereits den westlichen Politikern gesagt. Für den Präsidenten Lukaschenka stimmten [nämlich] 93,5%. [Die Westler] sagen, das sei kein europäisches Ergebnis. Da  haben wir [also] 86% gemacht“.
Trotzdem ist die in Deutschland gängige Redewendung von Belarus als „der letzten Diktatur Europas“ falsch. Sie wertet nämlich Russland auf. Niemand hätte übrigens Lukaschenka als einen „lupenreinen Demokraten“ gepriesen – selbst ein deutscher Regierungschef kann sich nur dann zum Gespött der politischen Kommentatoren der Welt machen, wenn er sich der russischen Führung anbiedern will. Dafür ist „Weißrussland“ der deutschen Politik einfach nicht wichtig genug.
Belarus wird in Deutschland seit gut zwei Jahrhunderten ausgeblendet, weshalb kaum jemand noch weiß, dass es früher „Weißreußen“, „Litauen“  und „Weißruthenien“ genannt wurde. Das seinerzeit von der Ostsee hin zum schwarzen Meer reichende Großfürstentum Litauen bestimmte – zusammen mit Polen – bereits im XIV. Jahrhundert die Geschicke Osteuropas entscheidend mit. Erst in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts gerieten die heute belarussischen Territorien unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches. Da sich die Deutschen (Preußen und Österreich) zusammen mit Russland an der Zerstörung der so genannten Republik Beider Nationen (den „Teilungen Polens“) beteiligt und bereichert haben, hatten sie in den darauf folgenden Jahrhunderten des nationalen Egoismus kaum Motivation, ausgerechnet den Eigenarten des zunächst russisch und dann sowjetisch vereinnahmten Belarus Aufmerksamkeit zu widmen sowie Respekt zu zollen.
Vor diesem Hintergrund bedeutete die in Deutschland kaum wahrgenommene Entstehung des souveränen belarussischen Staates im Jahre 1991 eine Zeitenwende und zugleich eine Herausforderung: Die Bundesrepublik sollte lernen, mit der bisher übersehenen Wirklichkeit umzugehen. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, kann getrost festgestellt werden, dass sie dieser Herausforderung nicht gerecht geworden ist. Dabei hat die Schwäche der belarussischen Nationsbildung eine große Rolle gespielt.
Im historischen Litauen war die Oberschicht (Adel, teilweise Geistliche) bereits im XVII. Jahrhundert zumindest sprachlich polonisiert, während das Volk – die Bauern –zahlreiche russische Dialekten sprach. Die belarussische Nationsbildung setzte Im „Gefängnis der Nationen“, wie das Petersburger Reich genannt wurde, erst Ende des XIX. Jahrhunderts an und traf dabei auf eine heftige Russifizierungspolitik.
Die Russifizierung basierte nicht zuletzt auf dem Umstand, dass es von jeher drei Völker gibt, die sich selbst als „russisch“ sehen: die Großrussen (heute „die Russen“, d.h. eigentlich „Russländer“), die Ukrainer (in Russland auch „Kleinrussen“ genannt) und eben die Belarussen. Der Begriff „Russländer“  (Russisch rossijanie, Belarussisch raskija) geht auf den seit dem XVII. Jahrhundert Russisch so genannten Staats- und Landesnamen „Russland“ (Rossija) zurück. Für die Belarussen hat das Petersburger Reich zeitweilig die Bezeichnung „Westrussen“ (zapadnorusy) propagiert, nicht zuletzt, um den historisch unbegründeten Anspruch Russlands, der einzig legitime Vertreter „aller Russen“ zu sein, doch zu untermauern. Dieser Anspruch wurde nicht zuletzt auf die vermeintliche Notwendigkeit der politischen Einheit der Völker, die der russisch-orthodoxen Konfession angehören, zurückgeführt. Bis heute vertritt die in Belarus stärkste, russisch-orthodoxe Kirche diesen imperial-russischen und somit antibelarussischen Anspruch.
Trotz der ethnischen, religiösen und sprachlichen Nähe der russischen Völker käme aber kein Russe (Russländer) auf die Idee, das in seiner Sprache vorhandene Wort Belarus’ durch das Geschöpf „Belarossija“ zu ersetzen. Gerade das leisten sich jedoch viele Deutsche mit „Weißrussland“. Dies geschieht ungeachtet dessen, dass die deutsche Sprache nicht nur die Unterscheidung zwischen „Rus’“ („russisch“) und „Russland“ („russländisch“), sondern darüber hinaus auch das Adjektiv „ruthenisch“ zur Abgrenzung von „russländisch“ kennt („Ruthenen“ schließen Belarussen und Ukrainer ein). Es stimmt schon nachdenklich, dass während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die 10-20% der Bevölkerung in Belarus das Leben gekostet hatte, die Nationalsozialisten noch korrekt von „Weißruthenien“ gesprochen hatten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich in Deutschland durchaus als möglich erwiesen, auf den tschechischen Wunsch hin den durch die Nationalsozialisten belasteten, aber im deutschen Volk trotzdem immer noch populären Begriff „Tschechei“ zumindest in der Behördensprache durch die Neuschöpfung „Tschechien“ zu ersetzen. Oder es gelang, diesmal schon im vorauseilenden Gehorsam, aus dem Litauischen den Namen „Vilnius“ zu übernehmen, obwohl es den seit Jahrhunderten den deutschen Namen „Wilna“ für die heutige Hauptstadt Litauens gibt, in der zuweilen nicht weniger Deutsche als Litauer zu leben pflegten.
Wo kommt das heute so seltsam populäre Wortgeschöpf „Weißrussland“ her? Etymologische Wörterbücher geben darüber keine Auskunft. Vielleicht geht diese indirekte Negierung des Selbstbestimmungsrechts der Belarussen auf die Bismarck-Zeit zurück, als Preußen (das Deutsche Reich) der zaristischen Unterdrückung der freiheitlichen Nationalbewegungen in Mittel- und Osteuropa wohlwollend gegenüber- bzw. beistanden? Vielleicht aber geht dieser ins Wort gemünzte Reaktionismus doch auf die Ignoranz zurück, die sich mittlerweile gleichsam sprachlich verselbständigt hat? Es ist müßig, darüber zu spekulieren.
Vielmehr darf die schlichte Tatsache nicht übersehen werden, dass der Gebrauch der falschen Übersetzung des Eigennamens Рэспу́бліка Белару́сь (Respublika Belarus’) in Deutschland politisch gewollt ist. Das Auswärtige Amt weigert sich nämlich beharrlich, im innerdeutschen Verkehr „Weißrussland“ durch „Belarus“ zu ersetzen. Diese besonders angesichts des außenpolitischen Wirrwarrs im vorangegangenen Jahrzehnt doch sehr überraschende Kontinuität hat verhängnisvolle Folgen sowohl für die Ignoranten als auch für die Wissenden.
Die Unwissenden übernehmen nämlich bedenkenlos die amtliche Sprachregelung und tragen so zur Verbreitung von „Weißrussland“ bei. Diejenigen wiederum, die zwischen „Rus’“ und „Russland“ unterscheiden, erkennen in „Weißrussland“ über die Ignoranz der offiziellen deutschen Stellen hinaus den Wunsch, Belarus als einen Teil Russlands betrachten zu wollen. Dadurch werden – erstens – Deutsche, die sich in der Tradition der Ostpolitik von Bismarck, Rapallo und Ribbentrop-Molotow sehen, politisch ermuntert. Zweitens werden die Chancen der belarussischen (National-)Demokraten, für ihr Land in Deutschland Verbündete zu gewinnen, reduziert. Denn das belarussische Vertrauen in die „deutschen Freunde von Weißrussland“ muss sich verständlicherweise in Grenzen halten. Zum dritten ermuntert jede Bevorzugung Russlands gegenüber Belarus zumindest die nicht-demokratischen Russen (Russländer) dazu, das westliche Nachbarland weiterhin als den geradezu natürlichen Herrschaftsbereich Russlands zu betrachten. Davon zeugt z.B. die Tatsache, dass im russischen „Großwörterbuch Deutsch-Russisch“ vom 2001 weder die Wörter „Belarusse“ und „belarussisch“ noch „Weißrussland“ bzw. „weißrussisch“ vorkommen, während etwa „Moldauer“ und „Ukrainer“ samt den entsprechenden Adjektiven übersetzt werden.
In der Osteuropa-Politik bedeutet die in den neunziger Jahren vollzogene Nationalisierung der deutschen Außenpolitik kaum etwas mehr als die Bemühung um die Stellung des bevorzugten Modernisierungshelfers, dem die autoritären Kreml-Herrscher den Zugang zu den von ihnen kontrollierten Märkten Russlands öffnen. Diese politische Linie wird nicht zuletzt auf Kosten der „Weißrussen“ (aber auch der Ukrainer) verfolgt und als „Realpolitik“ – wie denn auch sonst in diesem Land? – ausgegeben.
Es ist hierzulande sehr schnell vergessen worden, dass die Bundesrepublik wegen ihrer naiven Fixierung auf Russland den von der Peripherie aus fortschreitenden Zerfall des kommunistischen Imperiums ignoriert hatte. Es ist zudem so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden, dass die deutsche Außenpolitik es zwanzig Jahre später tatsächlich auch geschafft hat, die ukrainische Orange Revolution zu verschlafen. Heutzutage scheinen die deutschen Eliten auch die Tatsache zu ignorieren, dass durch die – wie auch immer motivierte – falsche Begriffswahl die belarussischen Nationsbildungsprozesse weder aufgehalten noch verlangsamt werden können.

10.05.2011

Nach der Finanzkrise: Es lebe die Marktwirtschaft!

Unvoreingenommene Deutsche geben normalerweise freimütig zu, dass sie – falls sie die USA zum ersten Mal besucht haben – von den netten Umgangsformen hinter dem großen Wasser sehr beeindruckt sind. Nun ändert der in Deutschland zuweilen schmerzhaft vermisste Schlief der alten guten Kinderstube nichts daran, dass auch die sonst so netten Amerikaner zu einem bitteren Zynismus imstande sind. An den Wolkenkratzern der Wall Street wurden 2008 Aufrufe an die Bankmanager und Börsianer – „Jump!“ – gehängt.
Anders als während der Großen Weltwirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre, als sich viele über Nacht Verarmte ohne Aufforderung für den Sprungfreitod entschieden haben, bestochen in den vergangenen zwei Krisenjahren zwar die New Yorker Straßen nicht durch besondere Sauberkeit, sie bedürften jedoch immerhin nicht Spezialreinigung. Allein das signalisierte, dass sich die  Finanzkrise auf einem viel höheren Wohlstands- und Sicherheitsniveau als vor neunzig Jahren abspielte.
Noch sauberer blieben allerdings die Straßen in den deutschen Bankenvierteln. Entsprechend hielten sich hier die zynischen Ausfälle gegen die einheimischen Versager mit millionenschwerem Grundeinkommen in Grenzen. Mehr noch: Zunächst galt es in Deutschland sogar als ausgemacht, dass an der Finanzkrise „Amerika“ die Schuld trug. Die „typisch kapitalistisch-amerikanische“ Gier wurde deshalb nicht zuletzt von vielen Vertretern der politischen Klasse der gern geglaubten Solidität der deutschen Bankgeschäfte entgegengehalten. Die Nachrichten über die biederen einheimischen Großspekulanten und sogar Kommunen, die in ihrer gierigen „Weltoffenheit“ ihre Kanalisationssysteme ausgerechnet an die nun als böse geltenden amerikanischen Banken verpfändet hatten, machten freilich Runde. Die nationale Soße, mit der die hiesige Krisendiskussion zunächst reichlich begossen worden war, roch seitdem etwas übel. Dazu trugen auch einige in ihrer Obszönität kaum zu übertreffende Metapher bei, ohne die mittlerweile offenbar keine öffentliche Diskussion hierzulande auskommt: Es gäbe „Pogromstimmung“ gegen Bankleute, die hier wie früher Juden behandelt sein würden, behaupteten ausgerechnet einige Bankleute. Wenn also doch nicht die Amerikaner  an der Krise Schuld waren, dann hätte es – und hier wurde an eine andere  politische Tradition angeknüpft – das „kapitalistische“ System gewesen sein müssen. In dieser Einschätzung – und in der Neigung zur Hysterie – unterschieden sich aber erstaunlicherweise die USA und Deutschland nicht mehr voneinander. Die deutsche Hysterie musste trotzdem mehr verwundern, weil sich hier die Folgen der Finanzkrise schon sehr in Grenzen hielten. Zudem wollte man in Deutschland die Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, dass die rapide gestiegene Staatsverschuldung weniger dramatisch ausgefallen worden wäre, wenn die im Lande seinerzeit so geliebte Große Koalition um Merkel und Steinmeier die glänzende Weltwirtschaftskonjunktur der Vorkrisenjahre nicht verschwendet hätte. Dem amerikanischen Mittelstand setzte dagegen insbesondere die große Immobilienkrise unerträglich zu. Den von der Krise am meisten betroffenen Amerikanern fiel es nicht leicht, sich gegen die Kenntnisnahme der Tatsache zu stemmen, dass sie in der Vergangenheit von billigen – weil faulen – Krediten durchaus profitiert hatten. Sie verdrängten offenbar auch die Tatsache, dass sie selbst zwei Mal nacheinander George W. Bush zu ihrem Präsidenten gewählt hatten, den sie dann mir Vorliebe für alles Negative verantwortlich gemacht haben.
Weder die Deutschen noch die Amerikaner wollten sich damit abfinden, dass die Finanzkrise eine notwendige und gesunde Reaktion der globalen Märkte auf verantwortungsloses menschliches Handeln darstellte. Dabei hatte der Markt bloß den Dreck gereinigt, den die Menschen produziert haben. Versagt hatten dabei aber nicht nur die Bankleute, die in vielerlei Hinsicht ihre Gesellschaften lediglich widerspiegeln: von sich selbst bis zur Lächerlichkeit überzeugt, ohne jegliches Verständnis für gesellschaftliche Zusammenhänge und mit einem völlig unbegründeten Anspruch an einen überdurchschnittlichen Wohlstand. Versagt hatten auch die Politiker, denen das Gemeinwohl weniger wichtig war als Wiederwahl. Selbstverständlich sind auch jene aufgeblasen auftretenden Wirtschaftsexperten als eklatante Versager zu erwähnen, die immer die Medien stürmen und – besonders in Deutschland – für ihre Fehldiagnosen und Blindheit doch seit langem bekannt sind (erinnern wir uns an ihre Einschätzungen der ökonomischen Leistungsfähigkeit der DDR und der Kosten der Wiedervereinigung). Schließlich zeigte sich wie in allen Nationen die breite Öffentlichkeit nach wie vor für nationale Selbstgefälligkeit anfällig, was von politischen Eliten in westlichen Demokratien bekanntlich stets schamlos ausgenutzt wird.
Es lebe der Markt!
Nur in so einem Klima war es möglich, dass sogar im „kapitalistischen Amerika“scheinbar alle für massive Interventionen des Staates eintraten, von den EU-Ländern ganz zus schweigen. Auch über den deutschen Wolken schien der Retter Obama zu strahlen.
Mittlerweile ist der in der Krise schier allgemeine Glaube an den amerikanischen Präsidenten dem alten-neuen  Glauben an die gute alte Marktwirtschaft mit ihrem Nachfrage-Angebot-Gesetz gewichen. Heute wird wieder auf beiden Ufern des großen Wassers auf Wachstumsstärke und Gewinne gesetzt. Hat sich aber dadurch etwas verändert? Nein. Die westlichen Gesellschaften glauben nach wie vor. An alles, was ihnen augenblicklich so einfällt - nur nicht an Gott.

Die zu Gutteberg-Affäre gibt es nicht!

Politische Kommentare sollen deutliche Meinungen enthalten und verständlich geschrieben sein. Auch müssen sie meistens sehr schnell geschrieben werden. Gute Kommentare zu schreiben ist wirklich eine Kunst. Wer das kann, darf sich häufig preisen, viele Menschen zu erreichen.
Wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten, darunter Dissertationen, werden dagegen lange Zeit und für eine nur begrenzte Gruppe von wissenschaftlich interessierten Lesern verfasst. Nur die wenigsten Wissenschaftler schaffen es, so verständlich zu schreiben wie die Zeitungskommentatoren. Wenn es ihnen trotzdem gelingt, dann normalerweise deshalb, weil sie die Komplexität der analysierten Problematik reduziert haben. Dies ist zwar manchmal zulässig, aber birgt zugleich auch stets die Gefahr in sich, dass dem Wissenschaftler der zuweilen berechtigte Vorwurf gemacht werden kann, er habe seinen Beruf verfehlt.
Ein ehemaliger deutscher Minister hat bekanntlich in seiner Dissertation im Fach Jura u.a. aus Zeitungen abgeschrieben, ohne dies kenntlich gemacht zu haben. Er ist übrigens mehrfach dadurch aufgefallen, dass er sich durchaus publikumswirksam in die Szene zu setzen und so seiner politischen Karriere immer wieder zum neuen Durchbruch zu helfen weiß. Vor diesem Hintergrund verwundert sein Drang nach dem Doktortitel nicht so sehr, kann doch eine akademische Würde auch der nicht-universitären Karriere förderlich sein, ebenso wie das Vortäuschen der Entscheidungsstärke auf Kosten der Untergegebenen, von einem inszenierten Medienauftritt, etwa im „Format“ eines belanglosen Wüstengesprächs mit einem Entertainer, ganz zu schweigen.
Es kommt hinzu, dass die meisten Bürger hierzulande zu Guttenberg haben wollen. Sollte er eines Tages tatsächlich auch noch Bundeskanzler werden, wird Deutschland diesen Regierungschef verdient haben, so wie die Russen Putin, die Italiener Berlusconi, die Franzosen Sarkozy und die Polen Tusk. (Die Liste lässt sich fortsetzen – unwichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Putin ein Diktator und chronischer Rechtsbrecher ist, während die anderen lupenreine Demokraten abzugeben versuchen). Jene Politiker, die sich den billigen Wünschen des Volkes nicht anpassen, haben eben heute kaum Chancen. Winston Churchill konnte noch behaupten, dass nichts den Glauben an die Demokratie so unterminiert wie ein Treffen mit dem Durchschnittswähler, und trotzdem regieren. Heute hätte ein dicker Zigarrenraucher in der Politik der meisten demokratischen Länder kaum was zu suchen, auch hierzulande nicht, wo sich das Volk offenbar – fern aller politischer Inhalte – eine Mischung aus einem Prinzen und Superman (unbedingt mit verpiegelter Sonnenbrille) wünscht. Von dem Hintergrund des andauernd billigen Zeitgeistes verwundert es nicht, dass zu Guttenberg populärer als Angela Merkel wurde. Diese ist zwar auch keine überragende Regierungschefin und somit mit Churchill gar nicht zu vergleichen, aber sie verbirgt zumindest nicht, dass sie echt ist.
Ist es wirklich zu erwarten, dass die Chancen des Verteidigungsministers, irgendwann Bundeskanzler zu werden, wegen einer teils abgeschriebenen Dissertation kleiner werden? Diese Erwartung ist gewiss verfrüht – dafür ist er zu glatt gekämmt. Wenn das Volk diese Frisur mag, wird er das Volk auch regieren können. Die eigentliche Affäre um zu Guttenberg besteht darin, dass an einer autonomen deutschen Universität einer Mischung aus Journalismus und Wissenschaft eine außergewöhnliche Leistung (summa cum laude soll schon Genialität andeuten) attestiert worden ist.
Schaut man noch genauer hin, muss man freilich erkennen, dass es gar keine Affäre gibt. Wer hat gesagt, dass Professoren im Gegensatz zu den Politikern vom Volk abgekoppelt sein sollten?