05.05.2012

Den zum Boykott Aufrufenden ist das Schicksal Julia Tymoschenkos egal


Es ist schon merkwürdig, dass beinahe ausschließlich in Deutschland mit der Idee des "Boykotts" der anstehenden Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine gespielt wird. Bloß "gespielt", weil nicht vorstellbar ist, dass der ukrainische Part des zusammen mit Polen organisierten Turniers doch noch in ein anderes Land verlegt werden könnte. Lediglich vorgespielt ist die Empörung über die Behandlung der sich in Haft befindenden Julia Tymoschenkos durch den früheren (?) kriminellen Wiktor Janukowytsch auch deshalb, weil den Politikern, die sich augenblicklich gern als tapfere Menschenrechtskämpfer in ihrer Sache ins Rampenlicht setzen, im September letzten Jahres nichts besonderes bewegte, als die ehemalige ukrainische Premierministerin zu sieben Jahren Haft und ca. 140 Mio.€-Strafe verurteilt worden war. Ich erinnere: Dieses Urteil wurde durch ein politisch gesteuertes Gericht "wegen" ihren früheren Amtshandlungen und nicht wegen ihren in der Tat zwielichtigen privaten Wirtschaftsgeschäfte in den neunziger Jahren verhängt. Im besagten September schwieg z.B. unser Minister für die Abschaffung und den gleichzeitigen Export der Atomkraftwerke, der sich heute so gern als ein Apostel des Menschenrechtsschutzfußballs ausgibt. Da er nicht im Wahlkampf stand, ist davon auszugehen, dass ihm die Ukraine nicht allzu bekannt war. Es zeugt von seinem Pflichtgefühl, dass er trotzdem die verantwortungsvolle Aufgabe auf sich zu nehmen gedachte, in einer Loga des Kiewer oder Charkiwer Stadions die Nation zu repräsentieren.

Die politische Profilierung auf Kosten eines anderen Landes ist geschmacklos. In diesem konkreten Fall ist sie schlichtweg schädlich.

Die ukrainischen und ausländischen Fußball-Fans, bezahlte Tickets in ihren Taschen, werden nun mit den sinnlosen Boykott-Aufrufen verunsichert. Noch wichtiger aber ist das Image der immer noch nicht wohlhabenden ukrainischen Nation, die auf sich sehr große Anstrengungen nahm, um die Europameisterschaft vorzubereiten. Es nimmt einen großen Schaden davon. Man darf auch nicht vergessen, dass sich Jankuowitsch lange zuvor mit seiner Außenpolitik ins internationale Abseits hineinmanövriert hatte. Es ist deshalb kaum zu erwarten, dass er ausgerechnet jetzt, d.h. vor den Augen der Weltöffentlichkeit, nachgibt und auf die politisch gefügige Justiz wieder Einfluss nimmt, diesmal zu Gunsten seiner politischen Hauptgegnerin. Boykottaufrufe ausgerechnet jetzt tragen eher zur Versteifung seiner ohnehin unnachgiebigen Haltung bei. Es darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass selbst der lediglich vorgetäuschte Druck aus Deutschland ausgerechnet in der Ostukraine, wo die deutsche Kriegsbesatzung auch in einigen Generationen nicht vergessen sein wird, zu einer Solidarisierung mit diesem gefährlichen Politiker führt.

Die Tatsache, dass diese und andere negative Folgen der Boykott-Aufrufe bei uns keine Berücksichtigung finden, lässt vermuten, dass es unter denjenigen, die ihr Image auf Kosten der Ukraine "aufpolieren" wollen, niemanden gibt, dem das Schicksal von Julia Tymoschenko so richtig am Herzen liegt. Innenpolitische Punktgewinne im künstlich erzeugten Klima des kollektiven Narzismus mit dem "Lieblingsspiel der Nation" im Hintergrund wiegen mehr als das (Über)Leben eines konkreten Menschen. Nicht nur Janukowitsch scheint die Gesundheit und das Leben seiner politischen Gegnerin egal.... Was für ein erschreckender und was für ein vielsagender Befund!

PS.
Zum Glück hat sich kürzlich der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, mit der nüchternen Kritik an der deutschen Politik in dieser Frage gemeldet (siehe: http://de.nachrichten.yahoo.com/fall-timoschenko-kritik-umgang-deutschen-politik-084211559.html). Für mich große Genugtuung, dass nun zumindest zwei gegen den Strom schwimmen.




East coast 1999 - Fotos


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