01.08.2014

Deutsche Lehren aus dem Warschauer Aufstand

Eine - auch von deutschen Zeugen in allen Details bestätigte - Geschichte von vielen, die sich im Warschauer Aufstand abgespielt haben: Eine Gruppe der deutschen Soldateska drang in ein von polnischen Aufständischen geführtes Krankenhaus ein, in dem neben verwundeten Polen auch die gefangen genommenen deutschen Soldaten gepflegt wurden. Die Letztgenannten riefen ihren Landsleuten zu: "Tötet nicht die Polen, die haben uns gut behandelt!". Trotzdem hatten die Eindringlinge alle kranken und verletzten Polen erschossen. Daraufhin haben sie die Krankenschwester vergewaltigt, die sie anschließend zusammen mit den ebenso nackten Ärzten in einen Raum hinein trieben. Dort hingen sie ihre Opfer mit den Köpfen nach unten auf. Dann schossen sie ihnen in Bauch, um ihnen ein langes und qualvolles Sterben zu bereiten.

Die Erinnerung an den Warschauer Aufstand, dessen Ausbruch sich heute zum siebzigsten Mal jährt, stellt einerseits einen Anlass dafür dar, darüber nachzudenken, welche Verantwortung die Nationen, die sich mehrheitlich über Moralnormen setzen, auf sich dauerhaft laden. Andererseits verleitet die Erfahrung des Warschauer Aufstands dazu, über das Dauerproblem der Unvereinbarkeit der nationalen Kulturen, die grundsätzlich unterschiedlich zu moralischen Prinzipien stehen, zu reflektieren. Die Polen folgten in ihrem Freiheitskampf universalen Moralnormen. Die vom moralischen Nihilismus befallenen Deutschen befolgten hingegen die durch fanatisch ideologisierte Verbrecher an der Macht erteilten Anordnungen. In Warschau führten sie den Befehl Himmlers aus, die Bewohner der polnischen Hauptstadt umzubringen (beiläufig reagierten sie dabei ihren merkwürdigen Überlegenheitskomplex ab). Sie töteten so 150 000 bis 200 000 Zivilisten, wobei sie am 5. August 1944 in nur einem Warschauer Stadteil - Wola - nicht weniger als 20 000 Menschen umbrachten.

Der Zusammenprall der gegensätzlichen moralischen Welten ereilt uns selbstverständlich auch heute, nicht zuletzt in der Ukraine-Krise. Auf der einen Seite haben wir die Russen, die größtenteils hinter dem Landesraub und der Militäraggression ihres Präsidenten stehen. Eine Minderheit der russischen "Universalisten" - meistens die wunderbaren Vertreter der dortigen Inteligencija - nährt die Hoffnung, dass russische Nation trotz allem nicht ganz verdorben ist. Auf der anderen Seite haben wir es mit den Ukrainern zu tun, die mit dem gegenwärtigen Drama ausgerechnet dafür "belohnt" werden, dass sie einen moralisch motivierten Aufstand gegen eine von Moskau unterstützte kriminelle Bande, die sie regiert hatte, wagten.

Auch in der westlichen Auseinandersetzung um die Ukraine-Krise prallen diese zwei gegensätzlichen Welten aufeinander. Vertreter der einen Welt reklamieren für sich jene "Realpolitik", die auf der scheinbar unmissverständlichen Definition des eigenen Interesses beruht, das ohne Rücksicht auf Moral verfolgt werden soll. In Deutschland werden in diesem Zusammenhang immer wieder eigene wirtschaftliche Verluste genannt, um die Ablehnung wirtschaftlicher Sanktionen gegen Russland zu rechtfertigen.  Die "Universalisten" betonen hingegen, das die Ukrainer kein Untermenschen-Volk darstellen, das sich dem Recht des Stärkeren zu beugen hat. Folgerichtig treten die "Universalisten" für ein hartes Vorgehen gegen den Räuber und Aggressor ein, selbst wenn "Realpolitiker" in ihm vor allem einen "geschätzten Wirtschaftspartner" sehen.

In Polen gibt es einen einzigen bekannten Politiker, Janusz Korwin-Mikke, der Putin für die angebliche Wahrung der russischen Interessen immer wieder lobt und nicht müde wird, zu wiederholen, dass unter "realpolitischen" Gesichtspunkten antirussische Sanktionen sinnlos sind. Sie würden der polnischen Wirtschaft schaden und überhaupt bräuchte es sich Polen mit Russland nicht zu verderben, am wenigsten um der Ukraine willen. In der deutschen politischen Klasse ist das Verhältnis der "Universalisten" zu den "Realpolitikern" anders: Es steht in etwa fifty fifty.

Korwin-Mikke genießt in Polen den Status eines politischen Affen. Er und diejenigen Polen, die seine Denkweise teilen, stellen sich - meist unbewusst, Menschen sind ja oft dumm - außerhalb der nationalen Tradition, in die sich jene hier erwähnten Ärzte und Krankenschwester, die für ihre moralische Aufrichtigkeit so grausam bestraft wurden, eingefügt hatten.

Und in welcher Tradition positionieren sich die rücksichtslosen deutschen Anhänger der Geschäfte mit Kriminellen an der Macht? Die Annahme, sie pflegten das Erbe der in Warschau wütenden Soldateska, wäre ebenso ungerecht wie unsinnig. Es ist "bloß" jene Tradition des moralischen Nihilismus, die den nationalen Egoismus zum obersten Prinzip erhebt. Diese Tradition hatte Hitler und die Soldateska in Warschau - und vieles andere - erst möglich gemacht.