25.05.2011

Warum dieses (dieser) Blog?

Dieser Post soll eigentlich als der allererste des Blogs publiziert gewesen sein. Wie soll man aber einen Post ausgerechnet mit diesem Titel schreiben, wenn man nicht weiß, ob jemand Lust haben wird, diesen URL überhaupt anzuklicken? Daher war die Reihenfolge so wie sie war: Zuerst einige Texte veröffentlichen, gucken, ob die Posts gelesen werden, und anschließend eine Art Begrüßung der Leser plazieren.

Immerhin wurde das (oder "der" - nach Wörterbüchern ist beides zulässig) Blog binnen der ersten zwei Wochen seiner Existenz (darunter drei Sperrtage wegen eines unbegründeten Google-Verdachts auf ein Spam-Vergehen) gut 400 Mal gewählt. Anlass genug, um diesen "Begrüßungspost" zu schreiben.

In den letzten zwei Jahren wollten mehrere Zeitungen drei Artikel nicht veröffentlichen, die mit geringfügigen Änderungen hier als erste publiziert worden sind. Der Platz in gedruckter Presse wird offenbar mit jedem Jahr teurer. Da die Tages- und Wochenblätter immer weniger Reklame und Leser haben, die beide ins Internet abwandern (wenn sich jemand ein ipad kauft, wozu noch die Tageszeitung?), haben sie auch mehr Konkurrenzdruck und weniger Geld. Die Artikel der Außenseiter - für welche die Zeitungen, die sich selbst respektieren, auch ganz vernünftig zahlen - stellen unter diesen Bedingungen mittlerweile einen Kostenfaktor dar. Nicht zuletzt weshalb werden heutzutage die Außenseitertexte grundsätzlich nur dann veröffentlicht, wenn diese auch bestellt worden sind.

Das scheint leider auch für Meinungen zu gelten. Von der Linie der Redaktion abweichende Überzeugungen sind heute weniger willkommen als noch vor einigen Jahren. Denn die typische Redaktion will die eigene, meist ältere "Zielgruppe" nicht abschrecken - so kommt es dazu, dass z.B. die FAZ, eins eine solide, wenngleich niemals besonders gut gemachte Zeitung, so steif deutsch-national geworden ist, als hätten ihre Redakteure wirklich nicht verstanden, dass wir entweder in der Europäischen Union oder gar keine Zukunft haben werden. Ähnliche inhaltliche Versteifung ist auch bei ideologisch anders als die FAZ vorbestimmten  Blättern festzustellen. Auch sie werden offenbar vor allem für Opas und Omas aufgelegt, die jene Meinungen nicht revidieren können, die sie sich vor einem halben Jahrhundert (als sie mit 30 oder 40 die Uni verließen - in diesem Alter bekam man den Studeinabschluss vor der Umstellung auf Bachelor und Master) angeeignet hatten.

So ist es dazu gekommen, dass die allermeisten Gazetten wie Kartoffelsäcke auf dem Markt gehandelt werden. Diskussion und Meinungsaustausch finden - wenn überhaupt - in Leserbriefen statt. Unter diesen Umständen bietet sich einem das Internet als das Diskussionsforum. Es funktioniert immerhin ohne mehr oder weniger subtile Zensur seitens der Meinungshändler, die sich immer noch "Zeitungsredakteure" nennen. Ob sich dieses Forum allerdings für die hier vertretenen Meinungen als günstig erweist, wird sich noch zeigen. Schaun wir mal... Bis jetzt jedenfalls sind noch die - sehr erwünschten - Kommentare zu den Texten auf diesem Blog nicht zu sehen.

19.05.2011

Warum und wie das Bestseller-Buch von Thilo Sarrazin gekauft wird

Es ist wie ein Märchen, zumindest aus der Sicht von Sozialwissenschaftlern: Man schreibt ein Buch voller Statistiken, Tabellen und Fremdwörter, das dann von weit mehr als einer Million Menschen gekauft wird. Die Erklärung dafür, warum Max Weber Jahrzehnte gebraucht hat, um solch einen kommerziellen Erfolg posthum feiern zu können (wenn so etwas nur möglich wäre...) und Thilo Sarrazin nur einige Wochen, ist sehr einfach. Es gibt eben Bücher, die gekauft werden, ohne dass bei den Käufern die ernsthafte Absicht besteht, sie zu lesen. Das Buch von Thilo Sarrazin über das sich "abschaffende" Deutschland gehört zweifellos dazu.
Die Käufer gehören - das ist mittlerweile durch Untersuchungen bewiesen - allesamt der höheren, gut situierten Bildungsschicht an. Kaum ein "Bild"-Leser ist dabei. Altersmäßig handelt es sich um Menschen so ab dem dreißigsten Lebensjahr, wenngleich die 50-60-jährigen überwiegen. Und nur diese Tatsache, dass es sich bei den Käufern um die meinungsführende Elite des Landes handelt,  ist entsetzlich. Das Buch an sich ist es nicht. Denn es gibt viele uninteressante bzw. schlechte oder merkwürdige Bücher.
Die Menschen besorgen sich das Buch von Sarrazin nicht deshalb, weil die darin enthaltenen Thesen in Deutschland unbekannt sind. Auch die Tatsache stört sie offensichtlich nicht, dass das Buch  mit jeder neuen Auflage "politisch korrekter" zu werden scheint. Aktuell kann man da z.B. nichts mehr über die Gene der muslimischen Völker finden, deren "Mentalitäten" seien nun für die Zukunft Deutschlands bedrohlich. Die Käufer glauben aber nach wie vor zu spüren, was der Autor gemeint hat.
Sie fühlen sich wahrscheinlich wie in einem besetzten Land, in dem Sarrazin etwas geschrieben hat, was die Besatzer zu sagen verboten haben. Sie kaufen das Buch, um einen - aus ihrer Sicht - Tapferen zu unterstützen, der über die genetische Vorbestimmung des Leistungsvermögens ganzer Kulturwelten zu schreiben gewagt hatte. Diese Käufer müssen also zutiefst angstvolle Menschen sein, die über Ausländer nur unter vorgehaltener Hand herziehen und jetzt plötzlich erleben, dass einer aus ihrer Mitte endlich in der Öffentlichkeit die alte gute Rassenlehre zur Erklärung der Probleme dieses schönen Landes bemüht. Bedroht durch ein Parteiausschlussverfahren und die Kritik seitens der Menschen, die mit seinen Meinungen nicht einverstanden sind, brauche er Solidarität.
Und wenn es um das bürgerliche Engagement des typischen Vertreters der deutschen Bildungselite geht, so ist mit ihm nicht zu spaßen. Am Samstag vormittags, nach der Lektüre eines spannenden "Die Zeit"-Artikels über die Querellen der SPD  mit dem besagten Parteiausschlussverfahren wird vom Hausherren  das wöchentliche Ritual plötzlich ausgesetzt. "Nun reicht es".  Die für gewöhnlich folgende "FAZ"-Lektüre findet nicht mehr statt. Er marschiert erhobenen Hauptes zur Buchhandlung, wo sein erfreutes Auge das außergewöhnliche Buch darüber, wie man Deutschland vor dem Aussterben retten soll (man nehme weniger Araber sowie Türken und zeuge selbst Kinder), tonnenweise gestappelt vorfindet. Er kauft. Es kostet 24 €.

18.05.2011

Die Griechenlandkrise zeigt den Nationalismus der Europäer

Die Griechenlandkrise ruft nun auch Scharlatane auf. In den deutschen Medien werden zum Teil abenteuerliche Ideen propagiert, denen allesamt eine irrationale und für gewöhnlich ausschließlich engstirnig-nationale Ablehnung unserer gemeinsamen Währung zugrunde liegt: Es solle in der EU drei Währungssysteme geben, der Euro solle zu einem neuen Ecu werden, man solle zu den nationalen Währungen zurückkommen. Nur auf den ersten Blick handelt es sich bei diesen Vorschlägen um die Ablehnung der gemeinsamen europäischen Währung. In der Tat wird damit das europäische Integrationsprojekt verworfen. Denn die Griechenlandkrise hat lediglich aufs Neue gezeigt, was die Hauptschwäche dieses Projekts ist: Der einseitig ökonomische Charakter der Union. Die ökonomische Integration der EU ist dabei mittlerweile so weit gediehen, dass sie - neben den bekannten großen Vorteilen, an die sich alle (auch die entschiedenen Kritiker des Projekts) wie selbstverständlich gewöhnt haben - auch Probleme produziert, die nur gemeinschaftlich gelöst werden können. Dafür fehlen jedoch im institutionellen Wirrwarr der EU politische Instrumente. Deshalb gibt es die selbsternannten Führer der Union (speziell aus Frankreich und Deutschland), die es sich nicht genieren, in der Ära der Demokratie den Völkern Entscheidungen zu verkünden, die in verborgenen Krisensitzungen getroffen wurden. Die Völker wiederum, die auf diese Art manchmal zur Kasse gebeten werden, sind übrigens selber schuld. Oder genauer: ihre nationalen Eliten sind selber schuld. Nationalistisch bis ins Knochenmark, entbehren diese Eliten schlichtweg des Vermögens, sich einen föderalen europäischen Souverän vorzustellen. Und dies, obwohl solche Krisen wie die heutige für alle, die doch noch zum redlichen Denken imstande sind, nach einer politischen Großreform unserer Union geradezu schreit, die sowohl eine Demokratisierung als auch die Übertragung einiger wichtiger nationalstaatlicher Kompetenzen auf die EU bedeuten muss. Wer will aber auf diesem Kontinent der Selbstsüchtigen eine - diesmal echte - Diskussion über die - diesmal echte - europäische Verfassung?

"Weißrussland" - die Kulturtasche der deutschen Politiksprache

Es gibt ein populäres Wort, das an der Tatsache zweifeln lassen muss, dass Goethe für die deutsche Kultur tatsächlich wichtig ist – „Kulturtasche“. Ähnliche Wörter gibt es auch in der politischen Sprache der Deutschen. Eines davon ist „Weißrussland“. Die „Kulturtasche“ verleitet  zu Überlegungen darüber, was für die deutsche Kultur denn so entscheidend prägend sein sollte. Die unbekümmerte Benutzung des angeblichen Eigennamens „Weißrussland“ wirft wiederum eine Vielzahl von Fragen auf, die kein gutes Zeugnis von der Geographie-, Geschichts-, Deutsch- und Politikkompetenz sowie dem Vermögen abgeben, mit kleineren Völkern umzugehen.
Wahrscheinlich sogar die meisten Menschen hierzulande wissen gar nicht, dass das besagte Land, das nur ein paar Hundert Kilometer von der deutschen Ostgrenze entfernt ist, nicht ein Teil Russlands ist. Es heißt in Wahrheit „Belarus“. Das ca. zehn Mio. Bewohner zählende Belarus liegt auf der West-Ost-Achse zwischen Polen und Russland, grenzt im Norden an Litauen sowie Lettland und hat im Süden eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine.
Belarus  wird seit 1994 vom eigenwilligen Staatspräsidenten Aljaksandr Lukaschenka regiert. Dieser bis vor Kurzem auch in Russland sehr beliebte Politiker machte jahrelang keinen Hehl daraus, eine Union mit dem „großen Bruder“ wiederbeleben zu wollen. Offenbar hoffte er sogar, der Unionspräsident zu werden. Mit dem Aufstieg Wladimir Putins in Russland dürfen jedoch diese Hoffnungen verflogen sein. Da ihm die eigene Macht immer wichtiger war als das Wohl seines Landes, behielt er die Kommandostrukturen der Staatswirtschaft bei und duldet seit 1996 keine politische Opposition mehr. Über seine verächtliche Einstellung zur Demokratie und dem Westen kann es keinen Zweifel geben. Am 23. November 2006 sagte er z.B. im belarussischen Fernsehen: „[Die Ergebnisse der kurz zuvor abgehaltenen Präsidentschafts-] Wahlen haben wir gefälscht, ich habe das bereits den westlichen Politikern gesagt. Für den Präsidenten Lukaschenka stimmten [nämlich] 93,5%. [Die Westler] sagen, das sei kein europäisches Ergebnis. Da  haben wir [also] 86% gemacht“.
Trotzdem ist die in Deutschland gängige Redewendung von Belarus als „der letzten Diktatur Europas“ falsch. Sie wertet nämlich Russland auf. Niemand hätte übrigens Lukaschenka als einen „lupenreinen Demokraten“ gepriesen – selbst ein deutscher Regierungschef kann sich nur dann zum Gespött der politischen Kommentatoren der Welt machen, wenn er sich der russischen Führung anbiedern will. Dafür ist „Weißrussland“ der deutschen Politik einfach nicht wichtig genug.
Belarus wird in Deutschland seit gut zwei Jahrhunderten ausgeblendet, weshalb kaum jemand noch weiß, dass es früher „Weißreußen“, „Litauen“  und „Weißruthenien“ genannt wurde. Das seinerzeit von der Ostsee hin zum schwarzen Meer reichende Großfürstentum Litauen bestimmte – zusammen mit Polen – bereits im XIV. Jahrhundert die Geschicke Osteuropas entscheidend mit. Erst in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts gerieten die heute belarussischen Territorien unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches. Da sich die Deutschen (Preußen und Österreich) zusammen mit Russland an der Zerstörung der so genannten Republik Beider Nationen (den „Teilungen Polens“) beteiligt und bereichert haben, hatten sie in den darauf folgenden Jahrhunderten des nationalen Egoismus kaum Motivation, ausgerechnet den Eigenarten des zunächst russisch und dann sowjetisch vereinnahmten Belarus Aufmerksamkeit zu widmen sowie Respekt zu zollen.
Vor diesem Hintergrund bedeutete die in Deutschland kaum wahrgenommene Entstehung des souveränen belarussischen Staates im Jahre 1991 eine Zeitenwende und zugleich eine Herausforderung: Die Bundesrepublik sollte lernen, mit der bisher übersehenen Wirklichkeit umzugehen. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, kann getrost festgestellt werden, dass sie dieser Herausforderung nicht gerecht geworden ist. Dabei hat die Schwäche der belarussischen Nationsbildung eine große Rolle gespielt.
Im historischen Litauen war die Oberschicht (Adel, teilweise Geistliche) bereits im XVII. Jahrhundert zumindest sprachlich polonisiert, während das Volk – die Bauern –zahlreiche russische Dialekten sprach. Die belarussische Nationsbildung setzte Im „Gefängnis der Nationen“, wie das Petersburger Reich genannt wurde, erst Ende des XIX. Jahrhunderts an und traf dabei auf eine heftige Russifizierungspolitik.
Die Russifizierung basierte nicht zuletzt auf dem Umstand, dass es von jeher drei Völker gibt, die sich selbst als „russisch“ sehen: die Großrussen (heute „die Russen“, d.h. eigentlich „Russländer“), die Ukrainer (in Russland auch „Kleinrussen“ genannt) und eben die Belarussen. Der Begriff „Russländer“  (Russisch rossijanie, Belarussisch raskija) geht auf den seit dem XVII. Jahrhundert Russisch so genannten Staats- und Landesnamen „Russland“ (Rossija) zurück. Für die Belarussen hat das Petersburger Reich zeitweilig die Bezeichnung „Westrussen“ (zapadnorusy) propagiert, nicht zuletzt, um den historisch unbegründeten Anspruch Russlands, der einzig legitime Vertreter „aller Russen“ zu sein, doch zu untermauern. Dieser Anspruch wurde nicht zuletzt auf die vermeintliche Notwendigkeit der politischen Einheit der Völker, die der russisch-orthodoxen Konfession angehören, zurückgeführt. Bis heute vertritt die in Belarus stärkste, russisch-orthodoxe Kirche diesen imperial-russischen und somit antibelarussischen Anspruch.
Trotz der ethnischen, religiösen und sprachlichen Nähe der russischen Völker käme aber kein Russe (Russländer) auf die Idee, das in seiner Sprache vorhandene Wort Belarus’ durch das Geschöpf „Belarossija“ zu ersetzen. Gerade das leisten sich jedoch viele Deutsche mit „Weißrussland“. Dies geschieht ungeachtet dessen, dass die deutsche Sprache nicht nur die Unterscheidung zwischen „Rus’“ („russisch“) und „Russland“ („russländisch“), sondern darüber hinaus auch das Adjektiv „ruthenisch“ zur Abgrenzung von „russländisch“ kennt („Ruthenen“ schließen Belarussen und Ukrainer ein). Es stimmt schon nachdenklich, dass während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die 10-20% der Bevölkerung in Belarus das Leben gekostet hatte, die Nationalsozialisten noch korrekt von „Weißruthenien“ gesprochen hatten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich in Deutschland durchaus als möglich erwiesen, auf den tschechischen Wunsch hin den durch die Nationalsozialisten belasteten, aber im deutschen Volk trotzdem immer noch populären Begriff „Tschechei“ zumindest in der Behördensprache durch die Neuschöpfung „Tschechien“ zu ersetzen. Oder es gelang, diesmal schon im vorauseilenden Gehorsam, aus dem Litauischen den Namen „Vilnius“ zu übernehmen, obwohl es den seit Jahrhunderten den deutschen Namen „Wilna“ für die heutige Hauptstadt Litauens gibt, in der zuweilen nicht weniger Deutsche als Litauer zu leben pflegten.
Wo kommt das heute so seltsam populäre Wortgeschöpf „Weißrussland“ her? Etymologische Wörterbücher geben darüber keine Auskunft. Vielleicht geht diese indirekte Negierung des Selbstbestimmungsrechts der Belarussen auf die Bismarck-Zeit zurück, als Preußen (das Deutsche Reich) der zaristischen Unterdrückung der freiheitlichen Nationalbewegungen in Mittel- und Osteuropa wohlwollend gegenüber- bzw. beistanden? Vielleicht aber geht dieser ins Wort gemünzte Reaktionismus doch auf die Ignoranz zurück, die sich mittlerweile gleichsam sprachlich verselbständigt hat? Es ist müßig, darüber zu spekulieren.
Vielmehr darf die schlichte Tatsache nicht übersehen werden, dass der Gebrauch der falschen Übersetzung des Eigennamens Рэспу́бліка Белару́сь (Respublika Belarus’) in Deutschland politisch gewollt ist. Das Auswärtige Amt weigert sich nämlich beharrlich, im innerdeutschen Verkehr „Weißrussland“ durch „Belarus“ zu ersetzen. Diese besonders angesichts des außenpolitischen Wirrwarrs im vorangegangenen Jahrzehnt doch sehr überraschende Kontinuität hat verhängnisvolle Folgen sowohl für die Ignoranten als auch für die Wissenden.
Die Unwissenden übernehmen nämlich bedenkenlos die amtliche Sprachregelung und tragen so zur Verbreitung von „Weißrussland“ bei. Diejenigen wiederum, die zwischen „Rus’“ und „Russland“ unterscheiden, erkennen in „Weißrussland“ über die Ignoranz der offiziellen deutschen Stellen hinaus den Wunsch, Belarus als einen Teil Russlands betrachten zu wollen. Dadurch werden – erstens – Deutsche, die sich in der Tradition der Ostpolitik von Bismarck, Rapallo und Ribbentrop-Molotow sehen, politisch ermuntert. Zweitens werden die Chancen der belarussischen (National-)Demokraten, für ihr Land in Deutschland Verbündete zu gewinnen, reduziert. Denn das belarussische Vertrauen in die „deutschen Freunde von Weißrussland“ muss sich verständlicherweise in Grenzen halten. Zum dritten ermuntert jede Bevorzugung Russlands gegenüber Belarus zumindest die nicht-demokratischen Russen (Russländer) dazu, das westliche Nachbarland weiterhin als den geradezu natürlichen Herrschaftsbereich Russlands zu betrachten. Davon zeugt z.B. die Tatsache, dass im russischen „Großwörterbuch Deutsch-Russisch“ vom 2001 weder die Wörter „Belarusse“ und „belarussisch“ noch „Weißrussland“ bzw. „weißrussisch“ vorkommen, während etwa „Moldauer“ und „Ukrainer“ samt den entsprechenden Adjektiven übersetzt werden.
In der Osteuropa-Politik bedeutet die in den neunziger Jahren vollzogene Nationalisierung der deutschen Außenpolitik kaum etwas mehr als die Bemühung um die Stellung des bevorzugten Modernisierungshelfers, dem die autoritären Kreml-Herrscher den Zugang zu den von ihnen kontrollierten Märkten Russlands öffnen. Diese politische Linie wird nicht zuletzt auf Kosten der „Weißrussen“ (aber auch der Ukrainer) verfolgt und als „Realpolitik“ – wie denn auch sonst in diesem Land? – ausgegeben.
Es ist hierzulande sehr schnell vergessen worden, dass die Bundesrepublik wegen ihrer naiven Fixierung auf Russland den von der Peripherie aus fortschreitenden Zerfall des kommunistischen Imperiums ignoriert hatte. Es ist zudem so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden, dass die deutsche Außenpolitik es zwanzig Jahre später tatsächlich auch geschafft hat, die ukrainische Orange Revolution zu verschlafen. Heutzutage scheinen die deutschen Eliten auch die Tatsache zu ignorieren, dass durch die – wie auch immer motivierte – falsche Begriffswahl die belarussischen Nationsbildungsprozesse weder aufgehalten noch verlangsamt werden können.

10.05.2011

Nach der Finanzkrise: Es lebe die Marktwirtschaft!

Unvoreingenommene Deutsche geben normalerweise freimütig zu, dass sie – falls sie die USA zum ersten Mal besucht haben – von den netten Umgangsformen hinter dem großen Wasser sehr beeindruckt sind. Nun ändert der in Deutschland zuweilen schmerzhaft vermisste Schlief der alten guten Kinderstube nichts daran, dass auch die sonst so netten Amerikaner zu einem bitteren Zynismus imstande sind. An den Wolkenkratzern der Wall Street wurden 2008 Aufrufe an die Bankmanager und Börsianer – „Jump!“ – gehängt.
Anders als während der Großen Weltwirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre, als sich viele über Nacht Verarmte ohne Aufforderung für den Sprungfreitod entschieden haben, bestochen in den vergangenen zwei Krisenjahren zwar die New Yorker Straßen nicht durch besondere Sauberkeit, sie bedürften jedoch immerhin nicht Spezialreinigung. Allein das signalisierte, dass sich die  Finanzkrise auf einem viel höheren Wohlstands- und Sicherheitsniveau als vor neunzig Jahren abspielte.
Noch sauberer blieben allerdings die Straßen in den deutschen Bankenvierteln. Entsprechend hielten sich hier die zynischen Ausfälle gegen die einheimischen Versager mit millionenschwerem Grundeinkommen in Grenzen. Mehr noch: Zunächst galt es in Deutschland sogar als ausgemacht, dass an der Finanzkrise „Amerika“ die Schuld trug. Die „typisch kapitalistisch-amerikanische“ Gier wurde deshalb nicht zuletzt von vielen Vertretern der politischen Klasse der gern geglaubten Solidität der deutschen Bankgeschäfte entgegengehalten. Die Nachrichten über die biederen einheimischen Großspekulanten und sogar Kommunen, die in ihrer gierigen „Weltoffenheit“ ihre Kanalisationssysteme ausgerechnet an die nun als böse geltenden amerikanischen Banken verpfändet hatten, machten freilich Runde. Die nationale Soße, mit der die hiesige Krisendiskussion zunächst reichlich begossen worden war, roch seitdem etwas übel. Dazu trugen auch einige in ihrer Obszönität kaum zu übertreffende Metapher bei, ohne die mittlerweile offenbar keine öffentliche Diskussion hierzulande auskommt: Es gäbe „Pogromstimmung“ gegen Bankleute, die hier wie früher Juden behandelt sein würden, behaupteten ausgerechnet einige Bankleute. Wenn also doch nicht die Amerikaner  an der Krise Schuld waren, dann hätte es – und hier wurde an eine andere  politische Tradition angeknüpft – das „kapitalistische“ System gewesen sein müssen. In dieser Einschätzung – und in der Neigung zur Hysterie – unterschieden sich aber erstaunlicherweise die USA und Deutschland nicht mehr voneinander. Die deutsche Hysterie musste trotzdem mehr verwundern, weil sich hier die Folgen der Finanzkrise schon sehr in Grenzen hielten. Zudem wollte man in Deutschland die Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen, dass die rapide gestiegene Staatsverschuldung weniger dramatisch ausgefallen worden wäre, wenn die im Lande seinerzeit so geliebte Große Koalition um Merkel und Steinmeier die glänzende Weltwirtschaftskonjunktur der Vorkrisenjahre nicht verschwendet hätte. Dem amerikanischen Mittelstand setzte dagegen insbesondere die große Immobilienkrise unerträglich zu. Den von der Krise am meisten betroffenen Amerikanern fiel es nicht leicht, sich gegen die Kenntnisnahme der Tatsache zu stemmen, dass sie in der Vergangenheit von billigen – weil faulen – Krediten durchaus profitiert hatten. Sie verdrängten offenbar auch die Tatsache, dass sie selbst zwei Mal nacheinander George W. Bush zu ihrem Präsidenten gewählt hatten, den sie dann mir Vorliebe für alles Negative verantwortlich gemacht haben.
Weder die Deutschen noch die Amerikaner wollten sich damit abfinden, dass die Finanzkrise eine notwendige und gesunde Reaktion der globalen Märkte auf verantwortungsloses menschliches Handeln darstellte. Dabei hatte der Markt bloß den Dreck gereinigt, den die Menschen produziert haben. Versagt hatten dabei aber nicht nur die Bankleute, die in vielerlei Hinsicht ihre Gesellschaften lediglich widerspiegeln: von sich selbst bis zur Lächerlichkeit überzeugt, ohne jegliches Verständnis für gesellschaftliche Zusammenhänge und mit einem völlig unbegründeten Anspruch an einen überdurchschnittlichen Wohlstand. Versagt hatten auch die Politiker, denen das Gemeinwohl weniger wichtig war als Wiederwahl. Selbstverständlich sind auch jene aufgeblasen auftretenden Wirtschaftsexperten als eklatante Versager zu erwähnen, die immer die Medien stürmen und – besonders in Deutschland – für ihre Fehldiagnosen und Blindheit doch seit langem bekannt sind (erinnern wir uns an ihre Einschätzungen der ökonomischen Leistungsfähigkeit der DDR und der Kosten der Wiedervereinigung). Schließlich zeigte sich wie in allen Nationen die breite Öffentlichkeit nach wie vor für nationale Selbstgefälligkeit anfällig, was von politischen Eliten in westlichen Demokratien bekanntlich stets schamlos ausgenutzt wird.
Es lebe der Markt!
Nur in so einem Klima war es möglich, dass sogar im „kapitalistischen Amerika“scheinbar alle für massive Interventionen des Staates eintraten, von den EU-Ländern ganz zus schweigen. Auch über den deutschen Wolken schien der Retter Obama zu strahlen.
Mittlerweile ist der in der Krise schier allgemeine Glaube an den amerikanischen Präsidenten dem alten-neuen  Glauben an die gute alte Marktwirtschaft mit ihrem Nachfrage-Angebot-Gesetz gewichen. Heute wird wieder auf beiden Ufern des großen Wassers auf Wachstumsstärke und Gewinne gesetzt. Hat sich aber dadurch etwas verändert? Nein. Die westlichen Gesellschaften glauben nach wie vor. An alles, was ihnen augenblicklich so einfällt - nur nicht an Gott.

Die zu Gutteberg-Affäre gibt es nicht!

Politische Kommentare sollen deutliche Meinungen enthalten und verständlich geschrieben sein. Auch müssen sie meistens sehr schnell geschrieben werden. Gute Kommentare zu schreiben ist wirklich eine Kunst. Wer das kann, darf sich häufig preisen, viele Menschen zu erreichen.
Wissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten, darunter Dissertationen, werden dagegen lange Zeit und für eine nur begrenzte Gruppe von wissenschaftlich interessierten Lesern verfasst. Nur die wenigsten Wissenschaftler schaffen es, so verständlich zu schreiben wie die Zeitungskommentatoren. Wenn es ihnen trotzdem gelingt, dann normalerweise deshalb, weil sie die Komplexität der analysierten Problematik reduziert haben. Dies ist zwar manchmal zulässig, aber birgt zugleich auch stets die Gefahr in sich, dass dem Wissenschaftler der zuweilen berechtigte Vorwurf gemacht werden kann, er habe seinen Beruf verfehlt.
Ein ehemaliger deutscher Minister hat bekanntlich in seiner Dissertation im Fach Jura u.a. aus Zeitungen abgeschrieben, ohne dies kenntlich gemacht zu haben. Er ist übrigens mehrfach dadurch aufgefallen, dass er sich durchaus publikumswirksam in die Szene zu setzen und so seiner politischen Karriere immer wieder zum neuen Durchbruch zu helfen weiß. Vor diesem Hintergrund verwundert sein Drang nach dem Doktortitel nicht so sehr, kann doch eine akademische Würde auch der nicht-universitären Karriere förderlich sein, ebenso wie das Vortäuschen der Entscheidungsstärke auf Kosten der Untergegebenen, von einem inszenierten Medienauftritt, etwa im „Format“ eines belanglosen Wüstengesprächs mit einem Entertainer, ganz zu schweigen.
Es kommt hinzu, dass die meisten Bürger hierzulande zu Guttenberg haben wollen. Sollte er eines Tages tatsächlich auch noch Bundeskanzler werden, wird Deutschland diesen Regierungschef verdient haben, so wie die Russen Putin, die Italiener Berlusconi, die Franzosen Sarkozy und die Polen Tusk. (Die Liste lässt sich fortsetzen – unwichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Putin ein Diktator und chronischer Rechtsbrecher ist, während die anderen lupenreine Demokraten abzugeben versuchen). Jene Politiker, die sich den billigen Wünschen des Volkes nicht anpassen, haben eben heute kaum Chancen. Winston Churchill konnte noch behaupten, dass nichts den Glauben an die Demokratie so unterminiert wie ein Treffen mit dem Durchschnittswähler, und trotzdem regieren. Heute hätte ein dicker Zigarrenraucher in der Politik der meisten demokratischen Länder kaum was zu suchen, auch hierzulande nicht, wo sich das Volk offenbar – fern aller politischer Inhalte – eine Mischung aus einem Prinzen und Superman (unbedingt mit verpiegelter Sonnenbrille) wünscht. Von dem Hintergrund des andauernd billigen Zeitgeistes verwundert es nicht, dass zu Guttenberg populärer als Angela Merkel wurde. Diese ist zwar auch keine überragende Regierungschefin und somit mit Churchill gar nicht zu vergleichen, aber sie verbirgt zumindest nicht, dass sie echt ist.
Ist es wirklich zu erwarten, dass die Chancen des Verteidigungsministers, irgendwann Bundeskanzler zu werden, wegen einer teils abgeschriebenen Dissertation kleiner werden? Diese Erwartung ist gewiss verfrüht – dafür ist er zu glatt gekämmt. Wenn das Volk diese Frisur mag, wird er das Volk auch regieren können. Die eigentliche Affäre um zu Guttenberg besteht darin, dass an einer autonomen deutschen Universität einer Mischung aus Journalismus und Wissenschaft eine außergewöhnliche Leistung (summa cum laude soll schon Genialität andeuten) attestiert worden ist.
Schaut man noch genauer hin, muss man freilich erkennen, dass es gar keine Affäre gibt. Wer hat gesagt, dass Professoren im Gegensatz zu den Politikern vom Volk abgekoppelt sein sollten?