Diesen Text habe ich für das Interview, das vor einer Woche mit mir telefonisch durchgeführt wurde, autorisiert:
Putins Interesse in der Ukraine ist es, das Land zu
unterwerfen. Ein jahrelanger "hybrider Krieg" würde das Nachbarland schwächen
und den Anschluss an den Westen unmöglich machen. Putin strebt meiner Meinung
nach einfach nicht danach, das Land zu besetzen. Das kann sich Russland - ein
Rentier-Staat ohne eine starke Volkswirtschaft - gar nicht leisten. Vielmehr
möchte er die Entwicklung der Ukraine so beeinflussen wie unter Kutschma und
Janukowytsch. Das Land soll zu einem willfährigen Satelliten Russlands werden.
Das wäre die Maximalvariante. Die Minimalvariante aus Sicht Putins wäre es, wenn
man sich aus den umkämpften Gebieten der Ost- und Südukraine zurückzieht,
nachdem ein Landweg von Russland zur Krim gesichert wurde. So oder so, muss
Putin aus innenpolitischer Sicht als Sieger aus dem Ukraine-Konflikt
hervorgehen. Müsste Russland für den Wiederaufbau von Donbass Geld zahlen, wäre
das nicht der Fall. Deshalb hat er auch an der Annexion vom Donbass
augenblicklich kein ernsthaftes Interesse. Denn Donbass das sind Gebiete und
Wirtschaftsstrukturen, die sehr lange subventioniert und reformiert werden
müssten. Dabei würden wir von Summen sprechen, die um ein vielfaches höher wären
als auf der Krim. Der Donbass dient Putin nur dazu, den Konflikt mit der Ukraine
am Kochen zu halten. Denn die ursprüngliche russische Strategie ist in der
Ukraine nicht aufgegangen – sogar auf der Krim wäre ohne das russische Militär
kein Anschluss an Russland durchgesetzt worden. Offensichtlich hatte das
russische Regime gehofft, dass die separatistischen Kräfte im Osten und Süden
des größten westlichen Nachbars wesentlich stärker sind - und es hat sich
verschätzt.
Russland ist von jeher ein Imperium (kein Nationalstaat) und
Putin will diesen imperialen Charakter beibehalten. Was die Russen selbst ihre
Kulturwelt - die "russische Welt" - nennen, basiert in etwa seit dem 15
Jahrhundert auf zwei Pfeilern: Despotie (uneingeschränkte Macht, die
Herrschenden dürfen alles – den Gesetzen zum Trotz) und Imperialismus (Streben
des Zentrums nach Erweiterung der Peripherie und nicht nach der Absicherung der
eigenen Grenzen). Im Verständnis dieser Kulturwelt macht Putin derzeit vieles
richtig. Nur was nutzt das Russland? Nichts. Putin löst keine Probleme, sondern
schafft bloß neue. Er hat die Ukraine, die zwei bis drei Jahrhunderte lang
unter russischer Herrschaft stand, für immer verloren. Er hat Russland mit dem
Westen zerstritten. Er hat die NATO Russland gegenüber handlungsfähig gemacht. Er
hat die EU politisch geeint. Sein Land wird international geächtet.
Innenpolitisch führt er Russland konsequent in eine Krise, die die "russische
Welt" in Frage stellen wird.
In der Krise der neunziger Jahren war das postsowjetische
Russland bereits auf dem schwierigen, aber hoffnungsvollen Weg der Neuerfindung.
Doch mit der damals sich abzeichnenden langen Gestaltung einer neuen, diesmal
nationalstaatlichen Identität kam die Mehrheit der Russen nicht zurecht. Und
dann kam Putin, der diese Entwicklung abwürgte. Für ihn war der Zerfall der
Sowjetunion die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Unter seiner Ägide
wurde die Inkompatibilität der "russischen Welt" mit der Modernität zu einem
Tabu-Thema und die Erstgenannte heiliggesprochen. Die exorbitant gestiegenen
Ölpreise haben es ihm zudem möglich gemacht, die in Russland populäre Ansicht zu
verbreiten, die Zukunft Russlands liegt in seiner Vergangenheit.
Wenn Putin nicht mit dem Westen kooperieren
will, dann wird er zum Vasallen Chinas - das behauptet Zbigniew Brzezinski. Zu
Recht. Die Chinesen haben Russland im Jahre 2014 mehrmals unter die Arme
gegriffen. Sie haben massiv den Rubel gestützt und mit Moskau einen
Pipeline-Vertrag für Gaslieferungen geschlossen, dessen wahre Kosten für
Russland bis heute eunklar sind. So macht sich der Kreml von den Abnehmern in
der EU unabhängig und abhängig von China. Meiner Meinung nach muss eine solche
Politik auf lange Sicht zum schrittweisen Souveränitätsverlust führen. Denn
selbst für Europa und USA ist es schon schwer genug, dem neuen wirtschaftlichen
Schwergewicht Paroli zu bieten. Wie soll das wirtschaftlich unterentwickelte
Russland dann schaffen?
Aus meiner Sicht braucht Russland keinen Putin, sondern eine
Wiederbelebung der von ihm aufgehaltenen Modernisierung. Diese lässt sich mit
Importen von ebenso Lebensmitteln wie technologisch hochentwickelten Waren nicht
gleichsetzen, selbst wenn die westliche Exporteure, vorzugsweise jene von
Luxusautos, dies immer wieder tun. Echte Modernisierung setzt nämlich einen tief greifenden Gesellschafts- und Kulturwandel voraus, so wie er nach dem
Kommunismus im Mitteleuropa erfolgreich eingeleitet bzw. vollbracht wurde. Für
beides muss die Staatsmacht in Zusammenarbeit mit dem jungen Mittelstand sorgen.
Er ist in Russland immer noch extrem schwach. Trotzdem verabscheut er bereits
heute die allgegenwärtige Korruption des russischen Staates und äußert nach und
nach seine politischen Partizipationswünsche. Da das Putinsche Regime jedoch vom
Erhalt des oligarchischen status quo zehrt, will es keinen starken Mittelstand
und auch keine Modernisierungspolitik.
Europapolitik: Putin wird weiter versuchen – so lange wie die
Sanktionen gegen Russland in Kraft sind bzw. über diese entschieden werden soll
- die EU zu spalten. Eine einheitlich handelnde EU kann er derzeit nicht
gebrauchen. Wenn die Ukraine-Krise allerdings eines Tages vorbei sein sollte
(woran ich in absehbarer Zeit nicht glaube), wird Putin eher an einer starken EU
interessiert sein. Denn er braucht sie als Gegenpol zur USA. Selbst wenn es
Putin ab und zu gelingt, den Westen zeitweilig zu spalten, ändert das nichts
daran, dass seine 2014 vollbrachte politische Wende zum Scheitern verurteilt
ist, obwohl diese Politik 20 Jahre und mehr dauern kann. Putins Absetzung
könnte zwar ihr schnell ein Ende setzen, aber diese ist wenig wahrscheinlich.
Der russische Präsident ist augenblicklich unersetzbar, was auch seine
politischen Gegner in Russland wissen. Sein plötzlicher Abgang würde Russland
wahrscheinlich ins Chaos stürzen. Es kommt hinzu, dass er nicht die Absicht hat,
die Macht abzugeben und alles tun wird, sie beizubehalten. Ein Rücktritt ist
für jemanden, der zur zentralen Figur eines verbrecherischen Regimes geworden
ist, immer gefährlich.
Verhältnis zur USA: Die Vereinigten Staaten werden in
Russland wieder als der Gegner Nummer eins dargestellt. Es ist ein Erbe der
kommunistischen Zeit, das Putin nach Kräften befeuert. Darin drückt sich eine
unglaubliche Doppelmoral der russischen Eliten aus. Sie lassen ihre Kinder und
ganze Familien mit Vorliebe in den USA und überhaupt im westlichen Ausland
leben, auch das Vermögen wird gern dahin geschafft, weil es dort sicher ist –
aber Zuhause werden USA und Westen weiterhin als das Böse verkauft. Die
Propagandamaschine diesbezüglich läuft auf Hochtouren und sie verfängt zum
grossen Teil, weil sie sich perfekt in die "russische Welt", für die Russland
einen Anspruch auf eine führende Stellung in der Welt hat, einfügt.
Überhaupt ist die Einstellung Russlands gegenüber den
Vereinigten Staaten und dem Westen irrational. Denn nur die Europäer und die USA
könnten echte Partner für Russland sein, zumal bei der gewaltigen
Modernisierungsaufgabe. Sie wären auch die einzigen, die sich darüber freuen
würden, es in der wirtschaftlichen und institutionellen Gemeinschaft zu
begrüssen, und auch keinerlei territoriale Ansprüche hätten. Bei China sieht das
schon wieder ganz anders aus. Denn Peking hat zum Teil berechtigte territoriale
Ansprüche, die es möglicherweise eines Tages auch anmelden wird. Putin ist aber
aus nachvollziehbaren Gründen eine "Internationale der Autokraten" wichtiger als
eine echte Kooperation mit dem demokratischen Westen.
Daraus ist dieses publizierte Interview geworden: