18.05.2011

"Weißrussland" - die Kulturtasche der deutschen Politiksprache

Es gibt ein populäres Wort, das an der Tatsache zweifeln lassen muss, dass Goethe für die deutsche Kultur tatsächlich wichtig ist – „Kulturtasche“. Ähnliche Wörter gibt es auch in der politischen Sprache der Deutschen. Eines davon ist „Weißrussland“. Die „Kulturtasche“ verleitet  zu Überlegungen darüber, was für die deutsche Kultur denn so entscheidend prägend sein sollte. Die unbekümmerte Benutzung des angeblichen Eigennamens „Weißrussland“ wirft wiederum eine Vielzahl von Fragen auf, die kein gutes Zeugnis von der Geographie-, Geschichts-, Deutsch- und Politikkompetenz sowie dem Vermögen abgeben, mit kleineren Völkern umzugehen.
Wahrscheinlich sogar die meisten Menschen hierzulande wissen gar nicht, dass das besagte Land, das nur ein paar Hundert Kilometer von der deutschen Ostgrenze entfernt ist, nicht ein Teil Russlands ist. Es heißt in Wahrheit „Belarus“. Das ca. zehn Mio. Bewohner zählende Belarus liegt auf der West-Ost-Achse zwischen Polen und Russland, grenzt im Norden an Litauen sowie Lettland und hat im Süden eine gemeinsame Grenze mit der Ukraine.
Belarus  wird seit 1994 vom eigenwilligen Staatspräsidenten Aljaksandr Lukaschenka regiert. Dieser bis vor Kurzem auch in Russland sehr beliebte Politiker machte jahrelang keinen Hehl daraus, eine Union mit dem „großen Bruder“ wiederbeleben zu wollen. Offenbar hoffte er sogar, der Unionspräsident zu werden. Mit dem Aufstieg Wladimir Putins in Russland dürfen jedoch diese Hoffnungen verflogen sein. Da ihm die eigene Macht immer wichtiger war als das Wohl seines Landes, behielt er die Kommandostrukturen der Staatswirtschaft bei und duldet seit 1996 keine politische Opposition mehr. Über seine verächtliche Einstellung zur Demokratie und dem Westen kann es keinen Zweifel geben. Am 23. November 2006 sagte er z.B. im belarussischen Fernsehen: „[Die Ergebnisse der kurz zuvor abgehaltenen Präsidentschafts-] Wahlen haben wir gefälscht, ich habe das bereits den westlichen Politikern gesagt. Für den Präsidenten Lukaschenka stimmten [nämlich] 93,5%. [Die Westler] sagen, das sei kein europäisches Ergebnis. Da  haben wir [also] 86% gemacht“.
Trotzdem ist die in Deutschland gängige Redewendung von Belarus als „der letzten Diktatur Europas“ falsch. Sie wertet nämlich Russland auf. Niemand hätte übrigens Lukaschenka als einen „lupenreinen Demokraten“ gepriesen – selbst ein deutscher Regierungschef kann sich nur dann zum Gespött der politischen Kommentatoren der Welt machen, wenn er sich der russischen Führung anbiedern will. Dafür ist „Weißrussland“ der deutschen Politik einfach nicht wichtig genug.
Belarus wird in Deutschland seit gut zwei Jahrhunderten ausgeblendet, weshalb kaum jemand noch weiß, dass es früher „Weißreußen“, „Litauen“  und „Weißruthenien“ genannt wurde. Das seinerzeit von der Ostsee hin zum schwarzen Meer reichende Großfürstentum Litauen bestimmte – zusammen mit Polen – bereits im XIV. Jahrhundert die Geschicke Osteuropas entscheidend mit. Erst in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts gerieten die heute belarussischen Territorien unter die Herrschaft des russischen Zarenreiches. Da sich die Deutschen (Preußen und Österreich) zusammen mit Russland an der Zerstörung der so genannten Republik Beider Nationen (den „Teilungen Polens“) beteiligt und bereichert haben, hatten sie in den darauf folgenden Jahrhunderten des nationalen Egoismus kaum Motivation, ausgerechnet den Eigenarten des zunächst russisch und dann sowjetisch vereinnahmten Belarus Aufmerksamkeit zu widmen sowie Respekt zu zollen.
Vor diesem Hintergrund bedeutete die in Deutschland kaum wahrgenommene Entstehung des souveränen belarussischen Staates im Jahre 1991 eine Zeitenwende und zugleich eine Herausforderung: Die Bundesrepublik sollte lernen, mit der bisher übersehenen Wirklichkeit umzugehen. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, kann getrost festgestellt werden, dass sie dieser Herausforderung nicht gerecht geworden ist. Dabei hat die Schwäche der belarussischen Nationsbildung eine große Rolle gespielt.
Im historischen Litauen war die Oberschicht (Adel, teilweise Geistliche) bereits im XVII. Jahrhundert zumindest sprachlich polonisiert, während das Volk – die Bauern –zahlreiche russische Dialekten sprach. Die belarussische Nationsbildung setzte Im „Gefängnis der Nationen“, wie das Petersburger Reich genannt wurde, erst Ende des XIX. Jahrhunderts an und traf dabei auf eine heftige Russifizierungspolitik.
Die Russifizierung basierte nicht zuletzt auf dem Umstand, dass es von jeher drei Völker gibt, die sich selbst als „russisch“ sehen: die Großrussen (heute „die Russen“, d.h. eigentlich „Russländer“), die Ukrainer (in Russland auch „Kleinrussen“ genannt) und eben die Belarussen. Der Begriff „Russländer“  (Russisch rossijanie, Belarussisch raskija) geht auf den seit dem XVII. Jahrhundert Russisch so genannten Staats- und Landesnamen „Russland“ (Rossija) zurück. Für die Belarussen hat das Petersburger Reich zeitweilig die Bezeichnung „Westrussen“ (zapadnorusy) propagiert, nicht zuletzt, um den historisch unbegründeten Anspruch Russlands, der einzig legitime Vertreter „aller Russen“ zu sein, doch zu untermauern. Dieser Anspruch wurde nicht zuletzt auf die vermeintliche Notwendigkeit der politischen Einheit der Völker, die der russisch-orthodoxen Konfession angehören, zurückgeführt. Bis heute vertritt die in Belarus stärkste, russisch-orthodoxe Kirche diesen imperial-russischen und somit antibelarussischen Anspruch.
Trotz der ethnischen, religiösen und sprachlichen Nähe der russischen Völker käme aber kein Russe (Russländer) auf die Idee, das in seiner Sprache vorhandene Wort Belarus’ durch das Geschöpf „Belarossija“ zu ersetzen. Gerade das leisten sich jedoch viele Deutsche mit „Weißrussland“. Dies geschieht ungeachtet dessen, dass die deutsche Sprache nicht nur die Unterscheidung zwischen „Rus’“ („russisch“) und „Russland“ („russländisch“), sondern darüber hinaus auch das Adjektiv „ruthenisch“ zur Abgrenzung von „russländisch“ kennt („Ruthenen“ schließen Belarussen und Ukrainer ein). Es stimmt schon nachdenklich, dass während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, die 10-20% der Bevölkerung in Belarus das Leben gekostet hatte, die Nationalsozialisten noch korrekt von „Weißruthenien“ gesprochen hatten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat es sich in Deutschland durchaus als möglich erwiesen, auf den tschechischen Wunsch hin den durch die Nationalsozialisten belasteten, aber im deutschen Volk trotzdem immer noch populären Begriff „Tschechei“ zumindest in der Behördensprache durch die Neuschöpfung „Tschechien“ zu ersetzen. Oder es gelang, diesmal schon im vorauseilenden Gehorsam, aus dem Litauischen den Namen „Vilnius“ zu übernehmen, obwohl es den seit Jahrhunderten den deutschen Namen „Wilna“ für die heutige Hauptstadt Litauens gibt, in der zuweilen nicht weniger Deutsche als Litauer zu leben pflegten.
Wo kommt das heute so seltsam populäre Wortgeschöpf „Weißrussland“ her? Etymologische Wörterbücher geben darüber keine Auskunft. Vielleicht geht diese indirekte Negierung des Selbstbestimmungsrechts der Belarussen auf die Bismarck-Zeit zurück, als Preußen (das Deutsche Reich) der zaristischen Unterdrückung der freiheitlichen Nationalbewegungen in Mittel- und Osteuropa wohlwollend gegenüber- bzw. beistanden? Vielleicht aber geht dieser ins Wort gemünzte Reaktionismus doch auf die Ignoranz zurück, die sich mittlerweile gleichsam sprachlich verselbständigt hat? Es ist müßig, darüber zu spekulieren.
Vielmehr darf die schlichte Tatsache nicht übersehen werden, dass der Gebrauch der falschen Übersetzung des Eigennamens Рэспу́бліка Белару́сь (Respublika Belarus’) in Deutschland politisch gewollt ist. Das Auswärtige Amt weigert sich nämlich beharrlich, im innerdeutschen Verkehr „Weißrussland“ durch „Belarus“ zu ersetzen. Diese besonders angesichts des außenpolitischen Wirrwarrs im vorangegangenen Jahrzehnt doch sehr überraschende Kontinuität hat verhängnisvolle Folgen sowohl für die Ignoranten als auch für die Wissenden.
Die Unwissenden übernehmen nämlich bedenkenlos die amtliche Sprachregelung und tragen so zur Verbreitung von „Weißrussland“ bei. Diejenigen wiederum, die zwischen „Rus’“ und „Russland“ unterscheiden, erkennen in „Weißrussland“ über die Ignoranz der offiziellen deutschen Stellen hinaus den Wunsch, Belarus als einen Teil Russlands betrachten zu wollen. Dadurch werden – erstens – Deutsche, die sich in der Tradition der Ostpolitik von Bismarck, Rapallo und Ribbentrop-Molotow sehen, politisch ermuntert. Zweitens werden die Chancen der belarussischen (National-)Demokraten, für ihr Land in Deutschland Verbündete zu gewinnen, reduziert. Denn das belarussische Vertrauen in die „deutschen Freunde von Weißrussland“ muss sich verständlicherweise in Grenzen halten. Zum dritten ermuntert jede Bevorzugung Russlands gegenüber Belarus zumindest die nicht-demokratischen Russen (Russländer) dazu, das westliche Nachbarland weiterhin als den geradezu natürlichen Herrschaftsbereich Russlands zu betrachten. Davon zeugt z.B. die Tatsache, dass im russischen „Großwörterbuch Deutsch-Russisch“ vom 2001 weder die Wörter „Belarusse“ und „belarussisch“ noch „Weißrussland“ bzw. „weißrussisch“ vorkommen, während etwa „Moldauer“ und „Ukrainer“ samt den entsprechenden Adjektiven übersetzt werden.
In der Osteuropa-Politik bedeutet die in den neunziger Jahren vollzogene Nationalisierung der deutschen Außenpolitik kaum etwas mehr als die Bemühung um die Stellung des bevorzugten Modernisierungshelfers, dem die autoritären Kreml-Herrscher den Zugang zu den von ihnen kontrollierten Märkten Russlands öffnen. Diese politische Linie wird nicht zuletzt auf Kosten der „Weißrussen“ (aber auch der Ukrainer) verfolgt und als „Realpolitik“ – wie denn auch sonst in diesem Land? – ausgegeben.
Es ist hierzulande sehr schnell vergessen worden, dass die Bundesrepublik wegen ihrer naiven Fixierung auf Russland den von der Peripherie aus fortschreitenden Zerfall des kommunistischen Imperiums ignoriert hatte. Es ist zudem so gut wie nicht zur Kenntnis genommen worden, dass die deutsche Außenpolitik es zwanzig Jahre später tatsächlich auch geschafft hat, die ukrainische Orange Revolution zu verschlafen. Heutzutage scheinen die deutschen Eliten auch die Tatsache zu ignorieren, dass durch die – wie auch immer motivierte – falsche Begriffswahl die belarussischen Nationsbildungsprozesse weder aufgehalten noch verlangsamt werden können.