29.01.2013

Erfolg oder Sumpf? Polen-Reihe 6: Über die Ost-West-Ambivalenz der Nation


Die sowjetischen Kommunisten und die ukrainischen Nationalisten haben das noch vom zaristischen Reich in Gang gebrachte Werk, Polen und die Polen aus den seit Jahrhunderten polnischen Ostgebieten („kresy“) verschwinden zu lassen, vollendet. Erst jetzt verfassen Historiker Werke darüber, wie im Ersten Weltkrieg tausende Adelslandhäuser samt Inventar und Hunderttausenden alten Büchern sowie sonstigen Zeugnissen der polnischen Kultur vom bolschewistischen Mob gezielt vernichtet wurden. Erst jetzt können die Polen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass lange vor dem Katyn-Massaker des Jahres 1940, nämlich in den Jahren 1937-38, 350 000 ihre Landsleute in der Sowjetunion einem „Mini-Genozid“ (Simon S. Montefiore) zugeführt wurden, wobei das NKWD auch auf Telefonbücher zurückgriff, um Menschen mit polnischen Namen verfolgen zu können. Erst jetzt kann man in Polen darüber lesen, wie in den Jahren 1943-1944 während der in den Dörfern Wolhyniens und Galiziens durch die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) vollbrachten systematischen Ausrottung der Polen, der über 100 000 Menschen zu Opfer fielen, polnische Kinder auf die Stacheln der Zäune aufgespießt wurden.
 „Zu viel Vergangenheit, zu wenig Zukunft“ – wird über das der eigenen Geschichte zugewandte Polen in Deutschland, dessen Geschichte auch Perioden umfasst, in der Polen schlichtweg vernichtet werden sollte, oft gelästert. Das Wissen über die Geschichte fließt ungeachtet dieser Lästereien in das polnische nationale Bewusstsein ein. Dazu gehört seit der so genannten Jedwabne-Debatte 2000-02 auch die Kenntnis darüber, wie Tausende Polen unter der deutschen Besatzung in Warschau oder in Kleinpolen Juden erpressten bzw. an die Deutschen lieferten oder zwischen Białystok und Łomża diese eigenhändig massakrierten. Immer bekannter werden auch diejenigen Polen, die unter Lebensbedrohung den Juden halfen. Wirklich zu viel Vergangenheit?

Das Selbstverständnis der Nation zwischen Ost und West wird den Polen von ihren östlichen Nachbarn geradezu abverlangt, von denen zwei – Belarus und die Ukraine – ihren eigenen Entwicklungsweg noch suchen. Polen stellt für diese seinen östlichen Nachbarn das anschauliche Beispiel der Westintegration dar. Für ihre jeweilige Nationenbildung ist Polen schlichtweg unentbehrlich, weil beide Völker ihre Vergangenheit nicht nur mit Russland teilen, sondern diese auch in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik, in deren Vernichtung durch die Teilungsmächte und in der mit Polen geteilten Ära der Unfreiheit  finden. Für Polen wiederum stellen sie gleichsam in Fortsetzung der Ideen Piłsudskis die notwendigen Gliedstaaten des föderalen Europas dar. Deshalb gestaltet Polen die Ostpolitik der Europäischen Union zuweilen entscheidend – mal mit besserem ("Orangene Revolution" in der Ukraine) und mal mit schlechterem („Demokratisierung von Belarus“ 2008-10) Ergebnis.
Sowohl die innere Entwicklung als auch der Druck von außen tragen dazu bei, dass Polen nach der aus der heutigen Sicht naiv anmutenden radikalen Zuwendung zum Westen seine historisch gewachsene Ost-West-Ambivalenz wieder entdeckt. In den bekannten Worten des in Lemberg geborenen Stanisław Jerzy Lec ausgedrückt, es bleibt der Osten des Westens und der Westen des Ostens.

 

Fortsetzung folgt