26.01.2014

Wende in der Ukraine? Mit der EU ist nicht zu rechnen.

War wieder in Kiew. Am Freitag sah es nach einem für die ukrainische Krise wichtigen, vielleicht entscheidenden Wochenende aus, weshalb ich auf die Schnelle ein Ticket und eine Schlafgelegenheit besorgt hatte und am Samstag Abend im Kiewer Stadtzentrum angekommen bin.

Ich fand eine getrübte Stimmung vor. Bereits mein Taxi-Fahrer, der mich vom Flughafen in die Stadt brachte, riet mir dringend davon ab, das (bereits bezahlte) Hotel im Zentrum zu benutzen. Er sagte, wir würden sowieso von der Polizei umgeleitet werden. In der Tat kamen wir bereits bei der Einfahrt in die Stadt an einigen Milizposten vorbei. Im Zentrum - nachdem wir eine neue Bleibe gefunden haben - bin ich gleich zur Chruschewskyj-Straße, die vom Majdan über den Europa-Platz zu den Regierungsgebäuden und zum Parlament führt, gekommen. Hier wurden in den vorangegangenen Tagen kriegsähnliche Kämpfe geführt. Auch hier sind einige Majdan-Leute umgekommen, für die mittlerweile zwei kleine improvisierte Kapellen aufgestellt wurden. An einer erinnert die von Lukaschenka verbotene belarussische Fahne - weiß, rot, weiß, und mit dem historischen Pogon-Wappen des Großfürstentums Litauen versehen - an die Nationalität des von den berüchtigten polizeilichen Sondereinheiten Berkut Erschossenen.

Es war dunkel und kalt (15-20 Grad minus), aber nicht nur deshalb gespenstisch. Drei quer durch die Straße aufgebauten Barrikaden, die erste durfte man passieren, auf die zweite bin ich aufgestiegen, um Fotos zu schießen, vor der dritten, die bloß den Majdan-Kämpfern "vorenthalten" war, brannten Reifen, so dass die Berkut-Leute im Rauch nicht sichtbar waren. Die mit Helmen verschiedener Provenienz (Motorrad, Baustelle, Fahrrad, Ski), Schlagstöcken sowie - manchmal - improvisierten Gelenkschützen und Schutzschildern ausgestattenden Majdan-Leute schlugen rhytmisch auf Metalgegenstände...

Nach der Besichtigung dieses düsteren Kriegsschauplatzes ging ich zum Majdan. Hier trat gerade die "Trojka" - die Oppositionsführer - auf. Sie verkündeten, das ihnen während der Verhandlungen am gleichen Tage von Janukowytsch gemachte Angebot abgelehnt zu haben, Jatzenjuk i Klitschko zum Premier und stellvertretenden Premierminister zu ernennen. Es ist klar: Die Tatsache, dass Janukowytsch eine solche Wende von tödlicher Gewalt gegen die Protestierenden bis hin zu derartigen Vorschlägen vollzogen hat, zeugt von seiner Schwäche. Völlig zu Recht hat aber die Trojka (darunter auch der rechtsextreme Tjachnibok) dieses Angebot nicht endgültig ausgeschlagen, obwohl sie dem Majdan gegenüber die Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten als die eigene vortrugen.

Denn wer soll ein neuer Präsident werden? Was soll die Regierung tun - nur das Assozierungsabkommen mit der EU unterzeichnen? Dadurch werden die systemischen Probleme des Landes nicht gelöst. Um aber das System auszuwechseln, braucht man einen politischen Reformwillen, kompetente Eliten, das Gefühl für Gemeinwohl - beinahe alles Ware, die - bis auf das Gemeinwohl-Gefühl - selbst auf dem Majdan knapp ist, vom Rest des Landes ganz zu schweigen.

Trotzdem beflügelte die von Janukowytsch angekündigte Wende den Majdan. Ganze Nacht harrten seine Kämpfer vor dem Ukraine-Haus aus, aus dem sie - zunächst vergeblich - die dort seit Wochen "deponierten" Polizisten vertreiben wollten, die stets eine große Gefahr für die auf der Chruschewskyj-Straße Majdan-Kämpfer darstellten. Während die letztgenannten nun das riesige Gebäude umzingelten, wurden ihnen gegenüber Berkut-Einheiten stationiert. Es sah nach der entscheidenden Schlacht aus. Dazu ist es aber nicht gekommen: So um 5. 00 Uhr morgens gaben die Polizisten nach und verließen das Ukraine-Haus, von den Majdan-Kämpfen ungehindert.

Heute (es ist Sonntag) konnte man auf dem Majdan schon die Entspannung spüren. Bereits am frühen Morgen gingen die Majdan-Anhänger dazu über, die von Sturmversuchen der letzten Nacht am Haus der Ukraine verursachten Zerstörungen zu beseitigen. Das vom Majdan besetzte Gebäude wurde geräumt, die Eingangstreppen vom Eis befreit, die zerschlagenen Scheiben provisorisch durch Bretter und Platten ersetzt.

Auch die Chruschewsky-Straße blieb ruhig. Sie wurde im frostigen Sonnenschein den ganzen Tag lang von den Kiewern besucht. Wahrlich, sie sieht wie eine Landschaft nach der Schlacht aus...

Was die protestierenden Ukrainern für ihr Land und eine europäische Zukunft tun, ist präzedenzlos. Aus Studenten, Arbeitern, Ärzten, Arbeitslosen, Kleinunternehmern, Managern, die vor gut einer Woche noch eine Art Frostkarneval feierten und sich vor knapp acht Wochen zu Protesten versammelt haben, sind harte Kämpfer geworden, die um die Sicherheit ihrer Mitbürger rührend besorgt sind. Indem sie sich der Berkut entgegengesetzt haben, haben sie ihrer Stadt die Angst genommen, die sie nach den Jahrzehnten des Kommunismus wieder zu ergriffen schien, nachdem Janukowytsch und Putin eine sinnlose Gewaltspirale aufgedreht hatten.

Diese bewundernswerten Menschen, deren Vorfahren in den ihnen fremden Machtbereich gekommen waren, werden leider keinen europäischen Marshall-Plan bekommen, der ihnen helfen könnte, dorthin zu kommen, wo ihr Platz ist - zur EU. Dafür sind die Westeuropäer zu egoistisch (sie verstehen sowieso nicht, was in der Ukraine passiert, und haben es nicht vor, das zur Kenntnis zu nehmen). Sollte es den Ukrainern gelingen, auch diese gefährliche Krise zu meistern, müssen sie damit rechnen, nochmals alleine gelassen zu werden.

Eines werden die Ukrainer mit ihrem Majdan  freilich erreicht haben. Niemand in Westeuropa wird weiterhin die Erkenntnis, die Ukraine sei ein europäisches Land, ohne Selbstbetrug unterdrücken können. Aber baut die EU nicht auf Selbstbetrug der Nationalisten auf?

PS. Fotos folgen noch. Bisher nur zwei Videos auf meiner Facebook-Seite: https://www.facebook.com/photo.php?v=558781540880515&set=vb.100002460228195&type=2&theater
https://www.facebook.com/photo.php?v=558870084204994&set=vb.100002460228195&type=2&theater