21.07.2014

Führt Deutschland die Europäische Union?

Ein ernst zu nehmender, seriöser politischer Beobachter aus Berlin reagierte kürzlich auf den öffentlich vorgetragenen Wunsch, unsere Regierungschefin solle sich den englischen Premierminister, David Cameron, zum Vorbild nehmen und die Verantwortung Russlands für den Abschuss der malesischen Maschine durch seine Terroristen in der Ostukraine offiziell anprangern:

"Cameron redet und schreibt viel, wenn es opportun ist. Er schwimmt hier auf einer Welle. Das wird erst glaubwürdig, wenn er die russischen Finanzgeschäfte in London genauer unter die Lupe nimmt.Und Deutschland ist in einer anderen Position, es führt. Merkel führt. Ihre Worte haben ganz anderes Gewicht als die eines Cameron, den niemand sehr ernst nimmt".

Der erste Teil dieses Kommentars ist einleuchtend. Cameron ist in der Tat ein Populist. Angesichts dieses trefflichen Urteils überraschen die pathetisch-verschwommenen Ausführungen über Deutschland und Angela Merkel umso mehr. Trotzdem lohnt es, auf sie einzugehen. Denn sie sind für das gegenwärtige politische Urteilsvermögen vieler Deutscher typisch. Realitätsfern sind sie auch.

Cameron kann und soll in der Tat kritisiert werden, aber es darf nicht vergessen werden, dass er in der Sache des malesischen Flugzeugs als Regierungschef eines Landes auftritt, dessen neun Bürger von den Terroristen, die Russland unterstützt, umgebracht worden sind. Da könnte er schon für die deutsche Regierung, die auf eine ähnliche Reaktion auf das Umbringen von vier deutschen Bürgern im gleichen Flugzeug warten lässt, so etwas wie Vorbild sein. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass das Ausbleiben einer ähnlichen Reaktion kein ausschließliches Problem der deutschen Regierungschefin, sondern ein insgesamt deutsches ist. Nicht zum ersten Mal zeigt sich dieses Land gleichsam unempfindlich, wenn es um das Schicksal der Anderen geht. Das schwach ausgeprägte Vorstellungsvermögen und ein verbreiteter Narzismus führen dazu, dass - abgesehen von Rauschperioden etlicher Fußballmeisterschaften - selbst die Angehörigen des eigenen Volkes als Andere, gar als Fremde wahrgenommen werden.

In diesem Sinne ist die unterkühlte Reaktion Angela Merkels auf die Tötung der Deutschen durch die prorussischen Terroristen als ähnlich populistisch einzuschätzen wie die scharfen Worte Camerons. Merkel ist bloß auf biedere Art populistisch. 

Diese Reaktion hat übrigens recht wenig damit zu tun, dass Deutschland die EU "führt". Einerseits ist Deutschland ausgerechnet unter dieser Bundeskanzlerin der Führungsaufgabe in der gegenwärtigen Krise nicht gewachsen. Wie die allermeisten Politiker, die augenblicklich in den EU-Ländern regieren, lässt sich auch die deutsche Regierungschefin treiben. Ihre politische Leistung besteht dabei darin, alles zu unterlassen, was ihrer Popularität im Inneren schädlich sein könnte, und das innenpolitische Interessengefüge, das sie trägt, unterminieren würde. Andererseits könnte eine deutsche EU-Führung nur informell sein. Ansonsten wäre sie illegal. Die EU ist zwar von der Demokratie Lichtjahre entfernt, aber sie kennt dennoch keine Institution, die eine Führung dieser föderalen Struktur durch ein einzelnes Land erlauben würde. Es mag ein Traum vieler Deutscher sein, "Europa" informell "zu führen". Realisierbar ist er nicht. Das zeigt doch ausgerechnet die Ukraine-Krise.

Die von Merkel vorgespielte und von mittlerweile vielen deutschen Intellektuellen öffentlich reklamierte deutsche Führung fällt da kompromittierend schwach aus. Zum einem ist Deutschland in der Russland-Frage bekanntlich von jeher gespalten: Der prorussischen Tradition steht eine Russland-kritische gegenüber. Die Kraft, diese Spaltung zu überwinden, hat die Regierung der Großen Koalition nicht. Merkel kann diese Spaltung bestenfalls mehr oder weniger zukleistern (es wäre müßig, hier darüber zu räsonieren, ob es überhaupt Politikfelder gibt, auf denen diese Regierung stark ist). 

Unter diesen Umständen gewinnen einige Lobbyisten aus einigen Wirtschaftssegmenten Oberhand in der deutschen Russland-Politik, obwohl nur 8% der deutschen Exporte nach Russland gehen. Nicht die deutsche Wirtschaft schlechthin, sondern einige Großfirmen, die ohne Unterstützung der Politik für ihre Geschäfte mit Autokraten nicht auskommen würden, profitieren davon. Wie merkwürdig das für ein wichtiges Land erscheinen mag, es sind einige Wirtschaftssegmente, von einigen Grußunternehmen geführt und vertreten, die die Richtung der deutschen Politik in der Ukraine-Krise entscheidend bestimmen. Wichtig zu wissen: Die Unternehmen dürfen  in einem freien Land gierig sein und entsprechend handeln, unabhängig davon, was man darüber denkt. Dass sie jedoch so viel politischen Erfolg haben, hängt damit zusammen, dass sich die Regierung treiben lässt. Zugleich wird dieser Erfolg von der erwähnten, prorussischen politischen Tradition mitgetragen.

Das hat alles nichts mit der "Führung Europas" zu tun, selbst wenn in Deutschland daran gern geglaubt wird und die meisten EU-Staaten an der Ostpolitik der EU sowieso kaum Interesse haben.