Helmut Schmidt hat sich (wieder) gemeldet. Seinem edlen Alter durchaus angemessen, erscheint er oft als ein Mann des 20. Jahrhunderts, der sich dagegen wehrt, die gegenwärtigen Realitäten anzuerkennen. Es passt in dieses Bild sehr gut, dass er auf dem Fernsehschirm wohl am häufigsten zu seinen Gefühlen vom Oktober 1977, als er das grüne Licht für das gewaltsame Befreien der deutschen Flugzeuggeiseln in Mogadischu gegeben hatte, befragt wird. Aber er äußert sich auch gern zur Gegenwart. Als würde es keine Globalisierung geben, die doch auch und besonders für die deutsche Politik internationale Zusammenhänge sehr verdichtet hat, wettert er oft und mit Vorliebe dagegen, dass sich die Bundesrepublik außerhalb Europas militärisch engagiert. In seinen wirtschaftlichen Analysen ist er dagegen stets up to date, was sowohl bewundernswert ist als auch die universitäre Ökonomie der Bundesrepublik, die ihre Blindheit für die wirtschaftlichen Probleme der Gegenwart oft zur Schau gestellt hat, beschämen könnte.
Diesmal - auf dem SPD-Parteitag am. 3. Dezember - hat der politisch 1982 gescheiterte Altbundeskanzler einige Gedanken über Europa formuliert. Diese Gedanken stammen zwar auch vom 20. Jahrhundert, aber sie wirken in diesem Europa-skeptischen Land trotzdem erfrischend. Leidenschaftlich und ohne Rücksicht auf die Stimmungen im Lande (auch auf die absehbaren plumpen Kommentare, mit denen die meist jugendlich-nationalistischen Internetforen auf seinen Auftritt reagiert haben) plädierte Schmidt für die wahre europäische Solidarität. Deutlich wie niemand hierzulande erklärte er u.a. die finanzielle Hilfe für Griechenland zur nationalen Pflicht Deutschlands. Dabei berief er sich auf europäische Geschichte und die verhängnisvolle Rolle, die für diese Deutschland im 20. Jahrhundert gespielt hatte.
Die auf Willensstärke beruhende Überzeugung und Glaubwürdigkeit konstruieren die Größe dieses Mannes, selbst wenn er gar nicht so selten irrt und seinen Kritikern gegenüber zuweilen auf schroffe Weise ungerecht ist (ich weiß, wovon ich rede, weil er auch auf mein Urteil über seine völlig verfehlte Polen-Politik der siebziger und achtziger Jahre recht plump reagierte). Daran, dass seine aktuellen Äußerungen zur Krise in Europa trotzdem großen Respekt verdienen, ändern diese seinen früheren Fehler jedoch nichts.
Das eine Problem mit seiner Rede besteht eher darin, dass er in einem Land geschichtlich argumentiert, das der Geschichte mit Vorliebe entflieht. Anders gesagt: Seine Argumentation ist zu tiefsinnig, als dass die Chance bestünde, mit ihr den Otto-Normalverbraucher zu überzeugen. Das andere Problem ist grundsätzlicher Natur: Schmidt will die Deutschen für Europa gewinnen, indem er national argumentiert. Den Schritt hin zum wahrlich europäischen Denken hat er nicht getan (kein Wunder beim Menschen seiner Generation).
Obwohl also der Altbundeskanzler die besagte Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit ausstrahlt, die heute der politischen Prominenz in allen europäischen Ländern gänzlich abhanden gekommen zu sein scheint, wird seine Rede nichts bewirkt haben. Falsch! Sie wird doch eine gewisse Wirkung entfalten. Sie wird nämlich den künftigen Historikern ein Beweis (unter unzähligen anderen) dafür sein, dass in der dramatischsten und verhängnisvollsten Krise unserer Union die rationalen Argumente die meisten Menschen nicht zu erreichen vermochten. Den denkenden Politikern von heute wird sie zugleich die Mahnung sein: Sie sollen das Richtige tun, selbst wenn die Masse nicht mitzieht.
Werden diese Politiker die dazu notwendige Schmidtsche Willensstärke haben?