09.11.2014

Stell' Dir vor: Es ist Krieg, und das Fernsehen sagt nichts darüber

Redakteur Boris Reitschuster von "Fokus" wunderte sich kürzlich auf seiner (empfehlenswerten) Facebook-Seite darüber, dass die offensichtlichen russischen Vorbereitungen zur einer neuen Offensive in der Ukraine kaum jemanden in Deutschland angehen: "Russische Truppen in der Ukraine - [es gibt dazu u.a.] ein Video von Nataliya Vasilyeva, Korrespondentin der renommierten Nachrichtenagentur AP. Früher hätte es in solchen Fällen Eilmeldungen gegeben: >Russischer Einmarsch<. Heute interessiert es kaum jemanden und ist in den Nachrichten kaum zu finden. Fast genial, Putins Taktik - so eine gigantische Informationsflut über Monate zu erzeugen, dass am Ende keiner mehr durchblickt und allen alles egal zu sein scheint".

Bei allem - wohl verdienten - Respekt für Herrn Reitschuster und seine besonders während der Ukraine-Krise sehr wichtige Arbeit: Es ist eine naive Sichtweise. Die Verwunderung Reitschusters (samt seinem ungewollten Lob Putins) basiert auf der Ausblendung der unbequemen Tatsachen, die aber allgemein bekannt sein dürften. Sie betreffen den geistigen Zustand der zumindest wegen ihrer Lage auf der Weltkarte zu Recht "westlich" genannten Länder und Deutschlands (ob es mittlerweile ein westliches Land ist, ist heute unklar, früher war es jedenfalls nicht). Trotz aller Gefahren der vorschnellen Pauschalisierung muss man doch feststellen, dass für Deutschland selbst bei seinen Eroberungen die Ukraine immer (dem Zentral-Europa ähnlich) unwichtig war. Wichtig war Russland. Die genuin westlichen Länder wie England oder die USA wiederum waren immer für den Verrat der prowestlichen Kräfte im weit begriffenen europäischen Osten (wie auch darüber hinaus) bereit. Über historische und aktuelle Erfahrungen mit Frankreich oder Italien lohnt es in diesem Zusammenhang gar nicht zu sprechen. 

Politische Analyse, die nicht naiv ist, basiert auf einer adequaten Realitätswahrnehmung. In der Ukraine-Krise stellt sich diese Wirklichkeit so dar, dass alle relevanten Mächte bzw. Möchte-Gerne-Mächte (selbstverständlich mit der Ausnahme Russlands) den frozen conflict haben wollen, weil das für sie augenblicklich am bequemsten ist. Was ein solcher Konflikt für die Weltpolitik, sie selbst und die direkt betroffenen Länder sowie Völker in der Zukunft bedeutet, darüber denken sie einfach nicht nach. Es ist eben diese gedankenlose Bequemlichkeit, die dazu führt, dass sie die russischen Vorbereitungen für eine neue Offensive nicht sehen wollen.

Zwar wird einem (einer) bange, wenn er (sie) diesen Geisteszustand dessen, was trotz allem immer noch "der Westen" genannt wird, tatsächlich zur Kenntnis nimmt. Recht unangenehm ist es auch, zuzugeben, dass der primitive, schlichte Geist und Verbrecher an der Spitze des russischen Staates diesbezüglich seinen "westlichen" Counterparts überlegen ist. Trotzdem handelt es sich bei diesem Geisteszustand um den Faktor, der in der gegenwärtigen Krise wahrscheinlich entscheidend ist. Die "westlichen" Länder werden heutzutage nicht von Churchills und Reagans regiert, die bei allen Fehlern, die sie gemacht hatten, und Schwächen, die sie durchaus hatten, zumindest starke Persönlichkeiten waren.

Solche führenden Persönlichkeit sind nicht in Sicht. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass sowohl in Eliten als auch in der breiten Bevölkerung der "westlichen" Länder offenbar kein Bedarf an solchen Persönlichkeiten besteht.

Für die Ukraine bedeutet es nicht mehr und nicht weniger: Sie kann vom "Westen" jederzeit im Stich gelassen werden. Lohnt es angesichts dieser blutigen Realität, über die vermeintliche Genialität des Lügners Putin zu spekulieren?