25.03.2022

Das sterbende russländische Imperium und sein deutscher Helfer

Unsere Köpfe sind voll mit Ideologien. In Kriegszeiten, d.h. in Zeiten der sich verdichtenden epochalen Ereignisse, wird die Wahrheit sichtbarer denn je. Es gibt dann die Chance, unser Bewusstsein (Wissen, Verständnis der Welt) der Realität anzupassen. Das kann allerdings nur dann geschehen, wenn wir uns anstrengen, um zu erkennen, dass unsere Ideologien – wie Karl Marx es völlig zu Recht festgestellt hatte – falsches Bewusstsein darstellen. Wenn es um ideologische Ansichten über Russland und die Richtigkeit der deutschen Ostpolitik geht, dann haben wir heute die Chance, eine intellektuelle Umwertung vorzunehmen. Diese Chance wird nicht wahrgenommen. 

 

Die gängige Antwort auf eine der hierzulande populärsten Fragen, nämlich „Warum hat Russland den Krieg begonnen?“, lautet: „Weil Putin das russische Imperium wiederherstellen will“. Die Antwort ist falsch. Immerhin wird aber endlich wieder vom Imperium im Osten gesprochen.

 

Die Frage nach den Ursachen des Krieges kann in der Tat nicht beantwortet werden, wenn die Ordnungssysteme des Imperiums und dessen Gegenspielers – der nationalstaatlichen Ordnung – nicht verstanden werden.  

 

Während sich das Imperium aus Kolonien und der Metropole zusammensetzt, deren Expansion vom selbstgerechten Sendungsbewusstsein getragen wird, basiert die nationalstaatliche Ordnung auf dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Nationalstaaten versuchen ein Gleichgewicht zu erreichen und so Frieden zu sichern. Da es keine perfekte Weltordnung gibt, gibt es auch unter den Nationalstaaten Stärkere und Schwächere, Allianzen und Konflikte, Verrat und das Streben der Stärkeren nach Vorherrschaft. Trotz der konstanten Berufung auf das hehre Prinzip der nationalen Selbstbestimmung bringt die nationalstaatliche Ordnung keinen Dauerfrieden, weil zumindest einige Nationen sich immer wieder überschätzen. Es kommt hinzu, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der Praxis in nationalen Egoismus mündet. Deshalb – und nur deshalb! – hat die Europäische Union eine Legitimation und Erfolg.

 

Die im Westen so populäre Idee des Selbstbestimmungsrechts ist in der osteuropäischen politischen Praxis kaum verwurzelt. Kaum jemand im Westen weiß, dass dies auf das Fehlen der Nationen zurückging, d.h. auf die Absenz von jenen besonderen Völkern, für die der Wunsch, sich selbst zu regieren, selbstverständlich ist.

 

Die Russländer sind keine Nation, sondern das ihr Imperium dominierende Volk. Sie regieren sich nicht selbst (Russland ist von jeher eine Despotie), sondern schöpfen ihr Sendungsbewusstsein aus der Herrschaft über andere. Bei ihrem jahrhundertelangen Streben nach Kolonien beriefen sie sich auf widersprüchliche Ideologien. Zu diesen kann ebenso die im 19. Jahrhundert so genannte Triada Sergiej Uwarows, in der Despotie und Religion für die Identität der Russländer ausschlaggebend sein sollten, zählen wie in der Sowjetunion der atheistische „Marxismus-Leninismus“, der auf einem umfassenden „wissenschaftlichen“ Bücherkanon basierte. Heute ist es demgegenüber die plumpe, nicht kodifizierte Vorstellung von der „russischen Welt“ mit seinen zwei wesentlichen Aussagen: Erstens stelle der russländische Präsident das Zentrum des russischen Kosmos dar, zu dem neben den Russländern als unverzichtbare „Brüdervölker“ die Belarussen sowie die Ukrainer gehörten. Zweitens hieße der russländische Präsident Wladimir Putin.

 

Nationen sind für das in etwa drei Jahrhunderte währende Imperium, das seine Expansion vom Gebiet des Fürstentums Moskau startete, seine natürlichen Feinde. Nicht von ungefähr wurde das Reich der Romanows das „Gefängnis der Nationen“ genannt und eines der wichtigsten Bücher über den größten Anführer des Imperiums, Josif Stalin, verfasst von Robert Conquest, trägt den Titel „The Breaker of Nations“. Die nationalen Eliten der Belarussen und der Ukrainer wurden in der Sowjetunion ausgerottet, damit sich alle russischen Völker die imperiale Identität aneignen konnten.

 

Das Imperium befindet sich seit den achtziger Jahren in Auflösung. Zuerst löste sich Polen und im Jahre 1989 die weiteren, im Warschauer Pakt organisierten nationalen Kolonien von der Metropole ab, die kurz darauf alle ein Teil der nationalstaatlichen Ordnung Zentral- und Westeuropas wurden. Im Jahre 1991 zerfiel die institutionelle Kernstruktur des Imperiums – die Sowjetunion. Nachdem die Ukrainer und die Belarussen ihre Nationalstaaten erhalten hatten, stellte sich die Frage, ob der postsowjetische Raum weiterhin imperial oder nationalstaatlich organisiert sein würde.

 

Denn das Imperium war 1991 nicht ganz gestorben. Das Sterben ist immer ein Prozess, in dem das Leben dem Mann mit der Sense weicht. Das kann lange dauern. 

 

Einerseits lebte das Imperium im Anspruch auf Kolonien fort. Während die Russländische Föderation krampfhaft versuchte, die Bindungen zu ihren zu Nationalstaaten umgewandelten Kolonien nicht zu verlieren, tauchte der „demokratische“ Außenminister Andrei Kozyrew sie vorsorglich in „das nahe Ausland“ um. Dieses definierte er als die Zone der alleinigen russländischen Einflussnahme, von der sich der Westen fernhalten sollte. 

 

Andererseits verlängerte die misslungene Transformation des kommunistischen Totalitarismus die Sterbensquälerei des Imperiums. In der Ukraine verlief zwar die große Umwandlung hin zum Pluralismus etwas erfolgreicher als in Russland und Belarus, aber auch dort führte das Unbehagen der Sowjetmenschen mit der neuen Wirklichkeit zur wahnwitzigen Verklärung der Vergangenheit und nährte so die Nostalgie nach dem Imperium (ein ähnlicher Prozess ist aus den neuen Bundesländern bekannt).

 

Trotzdem gibt es keinen Zweifel daran, dass der Kopf des Imperiums der Sense nicht entkommen wird. Dafür sorgt die beschleunigte Nationenbildung in Belarus und der Ukraine. Diese erfolgte auf natürlichem Weg durch das biologische Abtreten der Sowjetmenschen und manifestierte sich eindrucksvoll in spektakulären Protesten gegen die Beharrungskräfte des Imperiums: Majdan 2004-2005, Majdan 2013-2014, belarussische Proteste 2020. Aus den Rufen „Wir sind viele, wir werden siegen!“ und „Es lebe Belarus!“ konnte man das fröhliche Staunen heraushören, ähnlich dem Staunen, das sich im ersten Schrei der Neugeborenen verbirgt. 

 

Im Umbruch der Jahre 2011-2012 erlebte auch Russland politische Proteste. Sie waren vom Ausmaß viel kleiner und von der Ausrichtung her anders gelagert als bei den vermeintlichen Brüdervölkern. Sie richteten sich ausschließlich gegen den politischen Betrug des Kremls. Sie haben bestenfalls die Möglichkeit der Geburt der russländischen Nation angedeutet. 

 

Für Putin steht es außer Frage, dass weder die Russländer, noch die Belarussen, noch die Ukrainer Nationen sein dürfen. Seine Landsleute teilen mit ihm die Meinung, dass sie nicht zu den Grenzen des Moskauer Fürstentums im XVI. Jahrhundert zurückkehren wollen. Deshalb standen sie immer zu ihrem Präsidenten, wenn dieser den Westen dazu aufforderte, die Kozyrew-Doktrin zu respektieren. 

 

Der Westen tickt aber gerade in Europa anders als Putin und sein Volk, nämlich national. Er liebt es, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu beschwören und den nationalen Egoismus zu praktizieren.

 

Die deutsche Russland-Politik der vergangenen 25 Jahre war jene des nationalen Egoismus, wobei die Deutschen ihre nationalen Interessen eng ökonomisch definierten, was zwar einfach zu konzipieren, aber nicht unbedingt klug war. Echt geistreich war dagegen die Darstellung der nationalen Interessen als europäische Interessen. Dabei setzte die Bundesrepublik ihre Größe geschickt ein. Die innenpolitischen Probleme Frankreichs und der Brexit verhalfen zusätzlich zur Übernahme der Führung in der EU. 

 

Mit seiner Vormachtstellung in der Union betrieb Deutschland – die Bundesregierung samt der deutschen Öffentlichkeit – die doppelgleisige Russland-Politik. Während rhetorisch Kritik am Putinschen System ausgeübt wurde, wurde realiter mit Putin eine Partnerschaft auf dem für beide Länder zentralen Feld der Energieversorgung praktiziert: Russland lieferte Energie, für die es aus Deutschland Waren importierte und Geld nahm, mit dem er seine Streitkräfte modernisierte. Diese Allianz des untergehenden Imperiums mit dem seine eigene europäische Bedeutung, Klugheit und Stärke überschätzenden Nationalstaat musste bei den neuen Mitgliedern der EU, darunter vor allem in den baltischen Staaten und in Polen sowie in der Ukraine, Reminiszenzen hervorrufen. 

 

Politisch Denkende in Mittel- und Osteuropa erinnerten sich daran, dass der Erfolg der Friedenspolitik Bismarcks auf der Anerkennung der imperialen Ansprüche Russlands basiert hatte. Das Wilhelminische Deutschland akzeptierte die Zone der alleinigen russländischen Einflussnahme und stellte sich somit unmissverständlich und manchmal brutal gegen die Nationen und die nationalen Bewegungen im Westen des Zaren-Imperiums. Das Misstrauen gegen die Bundesrepublik wuchs.

 

Auch die Amerikaner fühlten sich düpiert dadurch, dass seit Schröder alle Bundesregierungen immer stärker die Schwäche ihrer Schutzmacht ausnutzten, die sich für die USA infolge ihrer vom demokratischen Messianismus getriebenen Außenpolitik und ihres Dauerkonflikts mit China ergab.

 

Der Erfolg blendet. In ihrem simplen Ökonomismus unterschätzten die Bundesregierungen sowohl die ungeahnten Kräfte der Nationenbildung in Osteuropa (für diese hat die deutsche politische Klasse keinen Sensor, weil man dazu Geschichtswissen braucht), als auch den russländischen Willen, das Sterben des Imperiums aufzuhalten. Was den zweiten Punkt angeht, so gingen sie von der anfangs erwähnten falschen Annahme aus, dass Russland dabei ist, das Imperium wiederherzustellen. Politisch war diese auf Unwissen basierende Fehleinschätzung verhängnisvoll. Da Deutschland auf Russlands Stärke, d.h. auf die lange Perspektive der Zusammenarbeit mit ihm gesetzt hatte, verlor es. 

 

Moralisch ist es der Verlierer. Jetzt müssen auch die Deutschen erkennen, dass ihr Land dem sterbenden Imperium geholfen hat, eine friedliche und fleißige Nation mit dem Krieg zu überrollen. Zugleich müssen sie realisieren, dass der russische Präsident unzählige ukrainische Leichen braucht, um zu begreifen, dass das Imperium nicht zu retten ist. Wie alle anderen Völker müssen sie dabei hoffen, dass er zuvor keinen Genozid begehen wird. 

 

Deutschland steht heute zwischen Russland, von dem es für einen nützlichen Idioten gehalten wird, und der Ukraine, die es verachtet. 

 

Es ist wie ein Kind, das gerade eben realisiert hat, dass es die Welt nicht versteht, aber über das Wissen nicht verfügt, um zu begreifen, dass der politische Erfolg niemals ausschließlich auf dem Wirtschaftserfolg basiert. Gezwungen zur Korrektur seines unartigen Handelns, schluckt es Tränen und schweigt. Wenn es ab und zu von den Erwachsenen zum Reden gebracht wird, wiederholt es Mantra-artig, dass die Spritpreise bereits sehr hoch seien und man für die Energiewende Gas braucht. 

 

Klammheimlich hofft es auf bessere Zeiten – nach dem Krieg. Es macht sich viele Gedanken darüber, was die Ukraine denn Russland geben sollte, damit dieses den „Frieden, der am wichtigsten ist“, akzeptiert.