02.06.2011

Präambel zum Lissaboner Vertrag

Es ist die latente irrational-antieuropäische – d.h. zutiefst nationalistische – Grundstimmung, die das Projekt des so genannten europäischen Verfassungsvertrags umgeworfen hatte. Die populistische Neigung der Politiker in den europäischen Staaten kam hinzu. Wir erinnern uns: Das Projekt scheiterte an Referenden in Frankreich und den Niederlanden (in Antizipation des ähnlichen Ausgangs hat man in Deutschland vorsorglich auf eine Volksabstimmung über den „Verfassungsvertrag für Europa“ verzichtet). Nach dem Scheitern hat man unter der deutschen Ratspräsidentschaft als Notlösung den „EU-Reformvertrag“ angestrebt, der unter der portugiesischen Ratspräsidentschaft 2007 tatsächlich angenommen und Anfang Dezember 2009 auch rechtskräftig wurde. Erstaunlicherweise ist es mit dem mittlerweile „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“ genannten Lissaboner Kompromiss gelungen, die wesentlichen Inhalte (nicht aber die Symbolik und Übersichtlichkeit) des „Verfassungsvertrages“ zu retten. Wie war so etwas möglich? Nur eine Antwort kann richtig sein: Entweder war der „Verfassungsvertrag“ keine Verfassung oder ist der Lissaboner Vertrag eine.

Die zweite Antwort wäre zu schön, um wahr zu sein. In Wahrheit hatten die politischen Eliten niemals beabsichtigt, der EU eine echte Verfassung, die bekanntlich ein Attribut der staatlichen Souveränität ist, zu geben. Vielmehr wollten sie mit dem Wort „Verfassung“ eine qualitative EU-Reform vortäuschen, ohne die Union zu demokratisieren. Gemessen an diesem Wort war das Ziel des „Verfassungsvertrages“ recht bescheiden: Das schier unüberschaubare EU-Regelwerk sollte den Erfordernissen der erweiterten EU angepasst und vereinfacht werden. Die bisherige teils informelle Verteilung der Macht unter den Nationalstaaten sollte aber nur unwesentlich, und zwar zugunsten Deutschlands ("doppelte Mehrheit"), verändert werden. Die Demokratisierung hätte dagegen die Macht der im Europäischen Rat vertretenen Nationalstaaten (darunter Deutschlands) zugunsten des Europäischen Parlaments und der Kommission beträchtlich reduzieren müssen.

Müssen die Europäer nach dem langjährigen (und irgendwie doch langweiligen) Horror mit der „europäischen Verfassungsgebung“ sowie mit der Ratifizierung des Lissaboner Vertrages (Irland) die Wirklichkeit verleugnen und diesen nun gut heißen? Müssen sie sich mit dem nicht-demokratischen institutionellen Durcheinander der EU nur deshalb zufrieden geben, weil auf absehbare Zeit keine Politiker den Mut aufbringen werden, eine echte demokratische Verfassung vorzubereiten und zu verabschieden? Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung könnte mit der dem Lissaboner Vertrag hinzuzufügenden Präambel getan werden:

"Wir Europäer, diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte und Schönheit glauben, wie auch jene, die diesen Glauben nicht teilen, und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, sind uns unserer ethnischen und nationalen Unterschiede bewusst. Wir wissen aus unserer Geschichte, dass unsere Vielfalt nur dann große Leistungen in Kultur, Politik und Wirtschaft hervorbringen kann, wenn wir in der durch Recht geschützten Freiheit leben. Wir haben uns diesen Vertrag gegeben, damit wir unsere Einheit in Vielfalt ausleben können, und zugleich im Bestreben, uns näher zu kommen.

Wir sind uns bewusst, dass unsere Union demokratisch werden muss. Damit die Demokratisierung geordnet verläuft, wollen wir alle drei Jahre einen Konvent mit der Novellierung dieses Vertrages beauftragen, und zwar mit dem Ziel, ihn eines Tages zur Verfassung der Europäischen Union umzuwandeln. Über die Annahme der durch den jeweiligen Konvent vorgelegten Novellen sollen unsere Vertreter im Europäi­schen Parlament befinden".

Nicht zu verwirklichen! Utopisch! Falsch!

Wirklich?