Lieber Carsten,
Deine schöne Kritik hat mich sehr gefreut und zu dieser Antwort animiert. Ich werde mich dabei an die Struktur Deines Beitrags halten, der mit der Feststellung beginnt, dass ich Deine Grundprämisse missverstehe: Du wärst entgegen meiner Behauptung doch ein Anhänger einer europäischen Föderation. Der endgültigen Klärung halber hätte es freilich nicht geschadet, wenn Du - wie ich zuvor - vom "europäischen Staat" geschrieben hättest. Denn eine europäische Föderation - zumindest im breiten Sinne des Begriffs - haben wir seit Langem. Diese ist aber zu wenig politisch ausgerichtet und deshalb außerstande, ihre gegenwärtigen Probleme und somit auch viele Probleme der EU-Staaten zu lösen. Diese Probleme können ausschließlich durch einen europäischen Souverän - durch den von den Nationalstaaten unabhängigen europäischen Bund - gelöst werden. Somit sind wir beim Deinem Punkt 1 angekommen.
1) In der Tat werden die wichtigsten Entscheidungen der EU in den letzten Jahren auf einem nicht-demokratischen Weg getroffen. Deine Beispiele stimmen. Du übersieht aber die Tatsache, dass es auch vor der Euro-Krise so war. Der berühmte "Motor der europäischen Integration", nämlich Deutschland und Frankreich, haben sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt, die anderen EU-Mitglieder herumzukommandieren. Vor Jahren schon habe ich in diesem Zusammenhang vom "rechtsstaatlichen Autoritarismus" in der EU geschrieben - im Gegensatz zu den meisten hiesigen Politkwissenschaftlern, die in diesem Zusammenhang bevorzugen, verharmlosend bloß von "Demokratie-Defiziten" zu sprechen. Beispiele für das deutsch-französische Kommandieren? Bitte sehr: Bei der Einführung vom Euro und überhaupt beim Maastrichter Vertrag oder bei der de facto Abschaffung des Stabilitätspakts (als beide Staaten sich erfolgreich geweigert haben, Strafen für ihre schlampige und deshalb vertragswidrige Fiskalpolitik zu zahlen) haben die Deutschen mit den Franzosen den Anderen abverlangt, was sie wollten. Und als vor gut einem Jahr sich Frankreich wegen seiner augenblicklichen Wirtschaftsschwäche mit der Rolle des deutschen Juniorpartners abzufinden begann, hat das in den hiesigen Medien eine Welle nationalen Zufriedenheit ausgelöst. Die Amerikaner würden endlich wissen, bei wem sie anzurufen haben, wenn es um die EU-Politik geht - nämlich bei Angela Merkel. Ich finde es nicht redlich, unsere Union ausschließlich durch nationale Brille zu sehen. Mir geht es dabei nicht um jenes oder anderes Land. Ich finde es unter meiner Würde, auf diese Art und Weise regiert zu werden. Gut, dass wir beide eine demokratische Union wünschen, d.h. eine ohne die deutsch-französische Führung, die sie zugrunde richten kann.
2) Ich bin im Gegensatz zu Dir ein Anhänger der Transferunion. Die historische Leistung der EU besteht gerade darin, dass sie als Transferunion sowohl die Starken als auch die Schwachen zusammengebracht und ihnen neue Entwicklungschancen gegeben hat. Die Voraussetzung dafür war immer, dass es für die Transfers klare Regeln gab, die auch eingehalten wurden. Auch der Euro-Raum braucht Regel, deren Einhaltung richtig - von einer supranationalen staatlichen Struktur - kontrolliert und notfalls gegen den Willen der nationalen Regierungen und Parlamente erzwungen wird. So eine Struktur lehnen aber nicht nur die Franzosen, die Spanier und die Italiener, sondern auch die Deutschen ab. Wenn einige kluge deutsche Politiker die Notwendigkeit einer solchen Struktur bloß andeuten, fallen ihnen die hiesigen vaterländischen Medien in den Rücken (zusammen mit Herrn Seehofer).
Zu Polen: Es beteiligt sich freiwillig mit sechs oder sieben Milliarden Euro an der Euro-Rettung. Vorwiegend aus politischen Gründen übrigens. Nebenbei bemerkt: Es ist ein typischer Scherz der deutsch-französisch geführten Union, dass Länder wie Polen wegen der Nicht-Einhaltung jener Maastricht-Kriterien nicht der Euro-Zone beitreten durften (das finde ich richtig), die sie in einem höheren Ausmaß erfüllten als viele Länder der Euro-Zone (inbegriffen die größten).
3) Ob Deutschland vom Euro ökonomisch profitiert oder nicht, weiß ich nicht. Gerade der Großteil der deutschen Ökonomen, die sich immer in die Tagespolitik einmischen, aber die ökonomischen Probleme der Gegenwart kaum zu erkennen imstande sind, wird offensichtlich alles sagen, was der politische Mainstream vorgibt. Der Euro stellt bloß eine Währung dar. Es gilt nun, diese Institutionen, die sie absichern (etwa die EZB) von den Nationalstaaten (augenblicklich in erster Linie von Deutschland und Frankreich) unabhängig zu machen. Wenn dies nicht gelingt, werden wir alle sehen, ob der Euro für Deutschland sowohl ökonomisch als auch politisch gut oder schlecht war.
4) Unsere Kanzlerin hat auf dem letzten Brüssler Gipfel nur das bekommen, was sie sich durch ihre sture und immer verspätete Politik auch verdient hat. Die Schulden im Euro-Raum sind zu vergemeinschaften. Erstens deshalb, weil nur so die Krise beigelegt werden kann. Zweitens deshalb, weil alle von der Schuldenmacherei zwei Jahrzehnte lang profitiert haben. Drittens, weil viele vorsätzlich gegen den Stabilitätspakt verstoßen haben. Der französische Präsident Holland ist für mich zwar ein typisch französischer Sozialist, d.h.nationalistisch wie ein typischer deutscher Sozialdemokrat, aber noch weniger von der Marktwirtschaft verstehend (verzeihe mir bitte dieses Spiel mit Vorurteilen). Gut an ihm ist jedoch ein sehr wichtiger Umstand: Er veranschaulicht die wahren Triebkräfte der heutigen Union. Wenn die nationalen Interessen der Deutschen und Franzosen gegensätzlich gelagert erscheinen, gibt es in der EU keinen "Motor", sondern ausschließlich ein vom früheren "Motor" konstruiertes beschämend undemokratisches und intransparentes Regelwerk.
Wenn das Regelwerk durch die Schaffung des souveränen europäischen Bundes mit einem echten Parlament und einer echten Regierung demokratisch wird, dann wird sich auch mit Zeit die europäische Identität einstellen, die die nationale und regionale ergänzen wird.
5) Du schreibst: "Es ist richtig, der Euro verlangt die europäische Integration der Fiskalpolitik. Nur, was derzeit geschieht, dient eher dazu, dass die europäischen Völker sich wieder auseinander entwickeln". Ich sehe das anders: Die Fiskalpolitik ist dazu da, einen Teil der Rahmenbedingungen für das Wirtschaften im Euro-Raum zu vereinheitlichen und somit die Währung stabil zu halten. Die Länder mögen sich dann nach wie vor unterschiedlich entwickeln, wie Saarland samt Mecklenburg-Vorpommern vs. Hamburg, wie NYC vs. Nebraska, wie Moskau vs. Dagestan usw. Aber ich stimme mit Dir damit überein, dass kaum eine seriöse Debatte über die europäischen Fragen geführt wird. Zu stark sind dafür die Tabus, zu groß die nationalen Augenklappen der Meinungsmacher, zu wenig ausgeprägt das Verständnis für die EU. Es bleibt also doch auf die heilende Wirkung der Krise zu hoffen. Schade, dass sie sich dafür noch vertiefen muss.
Herzliche Grüße
Jerzy