23.11.2012

Postkommunistische Eliten: nicht mehr die Demokratie steht zur Debatte, sondern ihre Qualität



Es ist der Text des Vortrages, den ich am 7. November im Rahmen des 5. Höhenschönhausen-Forums in der Gedenkstätte gehalten habe.


Das öffentliche Interesse für die Problematik der postkommunistischen Eliten ist heutzutage nicht mehr so groß wie vor zwei Jahrzehnten. Es war früher bestimmt durch die noch gegenwärtige Diskreditierung des Kommunismus, welcher der Wunsch nach einer politischen Säuberung – nach der Entfernung der Kommunisten von Staatsposten – folgte. Diesem Wunsch ist in den meisten betroffenen Ländern auch scheinbar entsprochen worden. Denn die Gallionsfiguren der alten Ordnung – d.h. die kommunistische Parteispitze – wurden tatsächlich von der Macht entfernt. Dieser spektakuläre Vorgang hatte aber bloß symbolische Bedeutung, und zwar im zweierlei Sinne. Zum einen handelte es sich bei den kommunistischen Spitzenfunktionären definitionsgemäß um eine sehr kleine Gruppe. Zum anderen geschah es oft, dass diese Säuberung von jenen Parteigenossen durchgeführt wurde, die daraufhin – bereits zu „Sozialdemokraten“ umgewandelt – selbst die Macht im Staat übernahmen (unübersehbar war diese Entwicklungsvariante in Bulgarien nach November und in Rumänien nach Dezember 1989).
Sieht man von der politisch durchaus wichtigen Symbolik ab, so betrifft die Frage nach dem Elitenwechsel primär Abertausende Funktionäre der Nomenklatura, darunter selbstverständlich der kommunistischen Partei und ggf. der „Blockflötenparteien“, die selbst in den vom Elitenimport geprägten neuen Bundesländern nicht alle ausgewechselt werden konnten. Es wundert nicht, dass die Vergangenheit großer Elitensegmente als graue Funktionärsmasse heute kaum jemanden interessiert. Von daher birgt die Problematik der ehemals kommunistischen Eliten so gut wie keine politische Brisanz in sich, und zwar sowohl in Deutschland als auch in den anderen postkommunistischen Ländern. Das gilt sogar für die Politikwissenschaft. Hatten wir es noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit einer Flut von empirischen Studien zur Entstehung der postkommunistischen Eliten zu tun, so werden heute in den wissenschaftlichen Publikationen dazu die früheren Untersuchungsergebnisse bloß aufgefrischt. Auch die Tatsache spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle, dass die Wirklichkeit die anfangs vielleicht zentrale These der postkommunistischen Elitenforschung falsifiziert hat. Diese besagte, dass die Demokratie nach dem Kommunismus dann die größten Chancen hat, wenn das Ausmaß des Elitenwechsels (d.h. der „Elitenzirkulation“) wesentlich größer ist als das Ausmaß der Elitenkontinuität (der „Elitenreproduktion“).
Dabei sind Probleme mit der Demokratisierung damals tatsächlich ausgerechnet in jenen Ländern unübersehbar geworden, in denen die Elitenkontinuität am größten war: Belarus, Bulgarien, Rumänien, Russland, die Ukraine. In den Ländern dagegen, in denen die politische Säuberung im direkten Anschluss an den politischen Umbruch größere Ausmaße annahm und wo anschließend newcomer zu den Elitenposten vorrückten, konnte man über das demokratische Wunder staunen: neue Bundesländer,  Polen, Tschechien, Ungarn. In diesen Ländern – und das ist das wichtigste Ergebnis der empirischen Elitenforschung der neunziger Jahre – stellte sich, statistisch betrachtet, ein ausgewogenes Verhältnis der Elitenreproduktion (Kontinuität) und der Elitenzirkulation (Diskontinuität) ein.
Diejenigen Beobachter, die die Affinität von Elitenwechsel und Demokratie zu einem Gesetz erhoben, übersehen oder bestenfalls missverstanden zugleich einen anderen eigentlich nicht übersehbaren Befund der Elitenforschung. Die relativ starke Elitenzirkulation fand nämlich in jenen Ländern statt, die sich sonst bezüglich der Eliten zuweilen markant voneinander unterschieden. Diese Unterschiede betrafen so wichtige Merkmale wie:
die Loyalität der alten Eliten gegenüber dem kommunistischen System. Diese Loyalität war in der DDR ungleich stärker ausgeprägt als z.B. in Ungarn, von Polen ganz zu schweigen;
die Stärke der antikommunistischen Gegenelite im kommunistischen System. In Polen war diese sehr stark, während er in der DDR und der Tschechoslowakei bekanntlich politisch weitestgehend irrelevant war;
den Elitenimport. Die neuen Bundesländer erlebten ihn in einem Ausmaß, das aus nachvollziehbaren Gründen in den anderen Ländern nicht Mal ansatzweise auftreten konnte.
Wer also den demokratischen Erfolg der postkommunistischen Transformation auf die relativ starke Elitenzirkulation zurückführt, der sieht zugleich den Zustand der jeweiligen kommunistischen Elite und der jeweiligen Gegenelite wie auch den äußeren Einfluss auf die jeweilige Demokratisierung als belanglos an. Ebenso belanglos müssen ihm auch die weiteren – neben dem relativ hohen Grad der Elitenzirkulation – empirisch belegten Ähnlichkeiten der Elitenentwicklung in allen postkommunistischen Demokratien vorkamen:
die Anpassung der alten Nomenklatura-Eliten an das neue, demokratische System erfolgte in einem atemberaubenden Tempo,
die Abwanderung der beträchtlichen Teile politischer und ideologischer Eliten in die Wirtschaft,
„revolution of deputies“ – der Aufstieg der zweiten Reihe der Nomenklatura,
der später – nach der erfolgreichen Institutionalisierung der Demokratie – erfolgte Aufstieg der ehemaligen Elitenangehörigen bzw. zumindest der ehemaligen Parteimitglieder oder der Spitzel der kommunistischen Sicherheitsdienste in manchen Elitensegmenten (etwa in Parlamenten – die Parlamente der neuen Bundesländer stellen dafür ein anschauliches Beispiel dar).
All diese von der Forschung konstatierten Ähnlichkeiten und Unterschiede der Elitenentwicklung lassen den Schluss zu, dass nicht so sehr das Ausmaß des Elitenwechsels die Chancen der Demokratie im Postkommunismus bestimmt, sondern dass diese Chancen von anderen, mit den Eliten bestenfalls zusammenhängenden Faktoren abhängen.  Das Beispiel des im Postkommunismus einmaligen Elitentransfers in die neuen Bundesländer bestätigt es: Obwohl in den neuen Bundesländern die entscheidenden Elitenpositionen durch „Westimporte“ übernommen wurden und es in der DDR kaum eine antikommunistische Gegenelite gegeben hatte, fand in den neuen Bundesländern ein im Vergleich zu den anderen postkommunistischen Ländern durchaus beachtenswerter Aufstieg der newcomer statt.
Welche Faktoren begünstigten also die stärkere Elitenzirkulation und die rapide gewachsene demokratische Loyalität der vom alten System übernommenen Eliten? Sowohl die Elitenzirkulation als auch die neue Systemloyalität schufen jene konsensuell vereinte Elite, die ohne jeden Zweifel jede Demokratie braucht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Faktoren hinweisen:
Es tat der Demokratie gut, wenn die Kommunisten bzw. ihre direkten Nachfolger nach den Gründungswahlen in die Opposition gehen mussten. In dieser Rolle lernten sie sehr schnell, was für ein gutes System die rechtsstaatliche Demokratie darstellt. Aber nicht nur in den späteren postkommunistischen Demokratien, sondern auch in Belarus, der Ukraine und Russland verloren die Kommunisten die ersten freien Wahlen. Ihre Erfahrung als politische Opposition erklärt also alleine ihre neue Akzeptanz der Demokratie nicht.
Die Demokratien entstanden ausschließlich in jenen postkommunistischen Ländern, die von jeher dem westlichen Kulturkreis angehören. Diese Zugehörigkeit hat offenbar irgendwie auf die Bereitschaft der postkommunistischen Eliten, den Verfahrenskonsens westlicher Demokratien zu respektieren, auch einen großen Einfluss ausgeübt. Bei der Erkundung dieses Feldes hilft uns aber die statistisch-empirische Elitenforschung kaum weiter.
In Bezug auf die Eliten im Postkommunismus sind auch die Fragen ihrer Kompetenz und ihrer Bindung an das Gemeinwohl sehr bedeutsam. Diese Faktoren bestimmen jedoch nicht so sehr die Chancen der postkommunistischen Demokratie, sondern bloß ihre Qualität. Und diese lässt noch viel zu wünschen übrig.