Die sowjetischen Kommunisten und die ukrainischen Nationalisten
haben das noch vom zaristischen Reich in Gang gebrachte Werk, Polen und die
Polen aus den seit Jahrhunderten polnischen Ostgebieten („kresy“) verschwinden zu lassen, vollendet. Erst jetzt verfassen
Historiker Werke darüber, wie im Ersten Weltkrieg tausende Adelslandhäuser samt
Inventar und Hunderttausenden alten Büchern sowie sonstigen Zeugnissen der polnischen
Kultur vom bolschewistischen Mob gezielt vernichtet wurden. Erst jetzt können die
Polen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass lange vor dem Katyn-Massaker des
Jahres 1940, nämlich in den Jahren 1937-38, 350 000 ihre Landsleute in der Sowjetunion
einem „Mini-Genozid“ (Simon S. Montefiore) zugeführt wurden, wobei das NKWD auch
auf Telefonbücher zurückgriff, um Menschen mit polnischen Namen verfolgen zu
können. Erst jetzt kann man in Polen darüber lesen, wie in den Jahren 1943-1944
während der in den Dörfern Wolhyniens und Galiziens durch die Ukrainische
Aufständische Armee (UPA) vollbrachten systematischen Ausrottung der Polen, der
über 100 000 Menschen zu Opfer fielen, polnische Kinder auf die Stacheln der
Zäune aufgespießt wurden.
„Zu viel
Vergangenheit, zu wenig Zukunft“ – wird über das der eigenen Geschichte
zugewandte Polen in Deutschland, dessen Geschichte auch Perioden umfasst, in der Polen schlichtweg vernichtet werden sollte, oft gelästert. Das Wissen über die Geschichte fließt
ungeachtet dieser Lästereien in das polnische nationale Bewusstsein ein. Dazu gehört seit
der so genannten Jedwabne-Debatte 2000-02 auch die Kenntnis darüber, wie Tausende
Polen unter der deutschen Besatzung in Warschau oder in Kleinpolen Juden
erpressten bzw. an die Deutschen lieferten oder zwischen Białystok und Łomża
diese eigenhändig massakrierten. Immer bekannter werden auch diejenigen Polen,
die unter Lebensbedrohung den Juden halfen. Wirklich zu viel Vergangenheit?
Das Selbstverständnis der Nation zwischen Ost und West wird den Polen von ihren östlichen Nachbarn geradezu abverlangt, von denen zwei
– Belarus und die Ukraine – ihren eigenen Entwicklungsweg noch suchen. Polen stellt
für diese seinen östlichen Nachbarn das anschauliche Beispiel der Westintegration
dar. Für ihre jeweilige Nationenbildung ist Polen schlichtweg unentbehrlich,
weil beide Völker ihre Vergangenheit nicht nur mit Russland teilen, sondern diese
auch in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik, in deren Vernichtung durch die
Teilungsmächte und in der mit Polen geteilten Ära der Unfreiheit finden. Für Polen wiederum stellen sie gleichsam
in Fortsetzung der Ideen Piłsudskis die notwendigen Gliedstaaten des föderalen
Europas dar. Deshalb gestaltet Polen die Ostpolitik der Europäischen Union zuweilen
entscheidend – mal mit besserem ("Orangene Revolution" in der Ukraine) und mal mit
schlechterem („Demokratisierung von Belarus“ 2008-10) Ergebnis.
Sowohl die innere Entwicklung als auch der Druck von außen
tragen dazu bei, dass Polen nach der aus der heutigen Sicht naiv anmutenden radikalen
Zuwendung zum Westen seine historisch gewachsene Ost-West-Ambivalenz wieder
entdeckt. In den bekannten Worten des in Lemberg geborenen Stanisław Jerzy Lec
ausgedrückt, es bleibt der Osten des Westens und der Westen des Ostens.
Fortsetzung folgt