„Die Polen“ sind, anders
als in Deutschland behauptet, nicht stark nationalistisch, d.h. sie fühlen sich
ihrem Staat nicht stark verbunden. Jedenfalls bei Weitem nicht so stark wie die Deutschen. Woher soll diese Verbundenheit auch herkommen
im Falle eines Volkes, das vor Jahrhunderten für Jahrhunderte seines Staates
beraubt worden war? Von der einst stolzen und mächtigen Nation, die den Großteil Osteuropas dem
westlichen Einfluss auszusetzen vermochte (Aleksander Solschenizyn schreibt in
diesem Zusammenhang von „polnischer Kolonisation“ der Rus‘-Länder), ist in der Unfreiheit
eine primär emotionale Gemeinschaft verblieben. Man möchte wieder Cyprian Kamil
Norwid bemühen, der die Polen „keine Gesellschaft“ nannte. Sie seien hingegen „eine
nationale Standarte“. Die Jahrzehnte nach 1989 scheinen dieses Urteil bestätigen.
Ein Kulturwandel, mit dem die Polen lernen, mit dem doch eigens erkämpften
Nationalstaat pfleglich umzugehen, ist von Rückschlägen gekennzeichnet.
Aber es geht nicht nur darum, einen ähnlich verantwortungsvollen
Bezug zum eigenen Staat zu entwickeln, wie ihn die westlichen Nationen scheinbar
von jeher haben. In Polen lässt sich diese Aufgabe nicht erfolgreich bewältigen,
ohne dass die Nation gleichsam neu „erfunden“ wird. Denn die Polen gehören
spätestens seit ihrem NATO- (1999) und EU- (2004) Beitritt den Privilegierten
dieser Welt an. Zuvor stellten sie jedoch (wie alle nach dem eigenen Staat
strebenden Nationen) die underdogs
der Weltgesellschaft dar, oder – wie es der Dramaturg Sławomir Mrożek
1983 in seinem offenen Brief an die Vereinten Nationen prägnant formulierte –
„Neger, bloß weiß“. Heute bestimmen noch die Generationen die Geschicke des
Landes, die als solche „weiße Neger“ sozialisiert wurden. Für ihre historisch
gewachsene Opferidentität haben die oft adoleszenten Westler-Polen nur den
Spott übrig. Es tobt ein nationaler Kulturkampf, der sich nicht zuletzt in der tiefen
politischen Spaltung der Gesellschaft wiederspiegelt. Ist es vor diesem
Hintergrund überhaupt möglich, die polnische Nation zu verwestlichen? Dieser Verwestlichung
scheint auch der natürliche Bezug Polens zum Osten Europas im Wege zu stehen.
Fortsetzung folgt