24.01.2013

Erfolg oder Sumpf? Polen-Reihe 5: Über die Verwestlichung der Nation


 „Die Polen“ sind, anders als in Deutschland behauptet, nicht stark nationalistisch, d.h. sie fühlen sich ihrem Staat nicht stark verbunden. Jedenfalls bei Weitem nicht so stark wie die Deutschen. Woher soll diese Verbundenheit auch herkommen im Falle eines Volkes, das vor Jahrhunderten für Jahrhunderte seines Staates beraubt worden war? Von der einst stolzen und mächtigen Nation, die den Großteil Osteuropas dem westlichen Einfluss auszusetzen vermochte (Aleksander Solschenizyn schreibt in diesem Zusammenhang von „polnischer Kolonisation“ der Rus‘-Länder), ist in der Unfreiheit eine primär emotionale Gemeinschaft verblieben. Man möchte wieder Cyprian Kamil Norwid bemühen, der die Polen „keine Gesellschaft“ nannte. Sie seien hingegen „eine nationale Standarte“. Die Jahrzehnte nach 1989 scheinen dieses Urteil bestätigen. Ein Kulturwandel, mit dem die Polen lernen, mit dem doch eigens erkämpften Nationalstaat pfleglich umzugehen, ist von Rückschlägen gekennzeichnet.

Aber es geht nicht nur darum, einen ähnlich verantwortungsvollen Bezug zum eigenen Staat zu entwickeln, wie ihn die westlichen Nationen scheinbar von jeher haben. In Polen lässt sich diese Aufgabe nicht erfolgreich bewältigen, ohne dass die Nation gleichsam neu „erfunden“ wird. Denn die Polen gehören spätestens seit ihrem NATO- (1999) und EU- (2004) Beitritt den Privilegierten dieser Welt an. Zuvor stellten sie jedoch (wie alle nach dem eigenen Staat strebenden Nationen) die underdogs der Weltgesellschaft dar, oder – wie es der Dramaturg Sławomir Mrożek 1983 in seinem offenen Brief an die Vereinten Nationen prägnant formulierte – „Neger, bloß weiß“. Heute bestimmen noch die Generationen die Geschicke des Landes, die als solche „weiße Neger“ sozialisiert wurden. Für ihre historisch gewachsene Opferidentität haben die oft adoleszenten Westler-Polen nur den Spott übrig. Es tobt ein nationaler Kulturkampf, der sich nicht zuletzt in der tiefen politischen Spaltung der Gesellschaft wiederspiegelt. Ist es vor diesem Hintergrund überhaupt möglich, die polnische Nation zu verwestlichen? Dieser Verwestlichung scheint auch der natürliche Bezug Polens zum Osten Europas im Wege zu stehen.


Fortsetzung folgt