19.05.2011

Warum und wie das Bestseller-Buch von Thilo Sarrazin gekauft wird

Es ist wie ein Märchen, zumindest aus der Sicht von Sozialwissenschaftlern: Man schreibt ein Buch voller Statistiken, Tabellen und Fremdwörter, das dann von weit mehr als einer Million Menschen gekauft wird. Die Erklärung dafür, warum Max Weber Jahrzehnte gebraucht hat, um solch einen kommerziellen Erfolg posthum feiern zu können (wenn so etwas nur möglich wäre...) und Thilo Sarrazin nur einige Wochen, ist sehr einfach. Es gibt eben Bücher, die gekauft werden, ohne dass bei den Käufern die ernsthafte Absicht besteht, sie zu lesen. Das Buch von Thilo Sarrazin über das sich "abschaffende" Deutschland gehört zweifellos dazu.
Die Käufer gehören - das ist mittlerweile durch Untersuchungen bewiesen - allesamt der höheren, gut situierten Bildungsschicht an. Kaum ein "Bild"-Leser ist dabei. Altersmäßig handelt es sich um Menschen so ab dem dreißigsten Lebensjahr, wenngleich die 50-60-jährigen überwiegen. Und nur diese Tatsache, dass es sich bei den Käufern um die meinungsführende Elite des Landes handelt,  ist entsetzlich. Das Buch an sich ist es nicht. Denn es gibt viele uninteressante bzw. schlechte oder merkwürdige Bücher.
Die Menschen besorgen sich das Buch von Sarrazin nicht deshalb, weil die darin enthaltenen Thesen in Deutschland unbekannt sind. Auch die Tatsache stört sie offensichtlich nicht, dass das Buch  mit jeder neuen Auflage "politisch korrekter" zu werden scheint. Aktuell kann man da z.B. nichts mehr über die Gene der muslimischen Völker finden, deren "Mentalitäten" seien nun für die Zukunft Deutschlands bedrohlich. Die Käufer glauben aber nach wie vor zu spüren, was der Autor gemeint hat.
Sie fühlen sich wahrscheinlich wie in einem besetzten Land, in dem Sarrazin etwas geschrieben hat, was die Besatzer zu sagen verboten haben. Sie kaufen das Buch, um einen - aus ihrer Sicht - Tapferen zu unterstützen, der über die genetische Vorbestimmung des Leistungsvermögens ganzer Kulturwelten zu schreiben gewagt hatte. Diese Käufer müssen also zutiefst angstvolle Menschen sein, die über Ausländer nur unter vorgehaltener Hand herziehen und jetzt plötzlich erleben, dass einer aus ihrer Mitte endlich in der Öffentlichkeit die alte gute Rassenlehre zur Erklärung der Probleme dieses schönen Landes bemüht. Bedroht durch ein Parteiausschlussverfahren und die Kritik seitens der Menschen, die mit seinen Meinungen nicht einverstanden sind, brauche er Solidarität.
Und wenn es um das bürgerliche Engagement des typischen Vertreters der deutschen Bildungselite geht, so ist mit ihm nicht zu spaßen. Am Samstag vormittags, nach der Lektüre eines spannenden "Die Zeit"-Artikels über die Querellen der SPD  mit dem besagten Parteiausschlussverfahren wird vom Hausherren  das wöchentliche Ritual plötzlich ausgesetzt. "Nun reicht es".  Die für gewöhnlich folgende "FAZ"-Lektüre findet nicht mehr statt. Er marschiert erhobenen Hauptes zur Buchhandlung, wo sein erfreutes Auge das außergewöhnliche Buch darüber, wie man Deutschland vor dem Aussterben retten soll (man nehme weniger Araber sowie Türken und zeuge selbst Kinder), tonnenweise gestappelt vorfindet. Er kauft. Es kostet 24 €.