20.12.2012

Erfolg oder Sumpf? Polen-Reihe 3: Über die Kartellisierung von Staat und Gesellschaft


http://en.wikipedia.org/wiki/Leszek_Miller
Die so genannte Rywin-Affäre der zweiten Hälfte des Jahres 2002 und deren parlamentarische Untersuchung im folgenden Jahr offenbarten die wohl spektakulärsten Formen der Korruption in der polnischen Republik. Da gibt es den mit dem postkommunistischen Premierminister (Leszek Miller) gutes Verhältnis pflegenden Chefredakteur und Mitbesitzer der wohl wichtigsten Tageszeitung im Lande (Adam Michnik),
http://en.wikipedia.org/wiki/Adam_Michnik
die von ihm heimlich mitgeschnittenen Gespräche, seinen Wunsch nach dem Kauf eines Fernsehsenders, einen bekannten Filmproduzenten (Lech Rywin) als Bestechungsboten und schließlich das angebliche Angebot der ominösen „Menschen an der Macht“, für 17,5 Mio. Dollar ein den Chefredakteur begünstigendes Gesetz zu verabschieden.
Der polnische Staat ist vielleicht nicht so korrupt wie ihn die Rywin-Affäre erscheinen lässt, aber Umfragen zeigen, dass die meisten Polen von seiner Ehrlichkeit gar nicht überzeugt sind. Zwar geht die Korruption zurück: Gemäß „Transparency International“ rangierte die Republik Polen vor einem Jahrzehnt noch unter den „ehrlichen“ Staaten auf dem 64 Platz. Inzwischen steigerte er sich auf den 41. Platz. Damit gehört Polen – zusammen mit Ungarn und Slowenien – den am wenigsten korrupten postkommunistischen Ländern an. Zufriedenstellend ist diese Positionierung jedoch nicht.

Die Korruption wird nicht zuletzt durch die Kartellisierung des politischen Systems gefördert. Die Kartelle expandieren aber über das politische System hinaus und scheinen mittlerweile das öffentliche Leben fest im Griff zu haben – inbegriffen freie Berufe, Richter, Staatsanwälte, Medien, Universitäten u.a.m. Nicht nur politische, sondern auch die gesellschaftliche Freiheit wird dadurch unterminiert. Der Staat steuert dieser antibürgerlichen und oft nepotischen Kartellisierung nicht entgegen, sondern vielmehr begünstigt er sie.
Es handelt sich dabei um für postkommunistische Länder typische Erscheinungen. Sie sind mehr oder weniger mit dem bis heute nicht überwundenen Erbe des Totalitarismus verbunden, der eine Art Privatisierung des Staates praktizierte. Die Machtausübung war mit Privilegien verbunden, was eine Kultur der Selbstbedienung förderte, die immer noch gegenwärtig ist, zumal Polen nach 1989 nicht die Möglichkeit gehabt hatte, die Eliten des kommunistischen Parteistaates ganz auszutauschen.

Fortsetzung folgt

18.12.2012

Erfolg oder Sumpf? Polen-Reihe 2:Über die starke polnische Wirtschaft


Wenn man bei dem in Polen nach dem Kommunismus vollbrachten Systemwechsel von der Freiheit der Polen sprechen kann, dann betrifft sie in erster Linie die ihnen unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und im Sozialismus verwehrte Freiheit des Wirtschaftens. Mit der von Leszek Balcerowicz konzipierten marktwirtschaftlichen „Schocktherapie“ des Jahres 1990 gewann die Ökonomie auf einen Schlag ihre Autonomie gegenüber dem Staat wieder, was zu einer explosivartigen Entwicklung des privaten Sektors geführt hat. Der kleine Mittelstand macht mittlerweile gut neunzig Prozent der polnischen Wirtschaft aus. Er, die Investitionen aus dem Ausland und die stets steigenden Exporte sorgen für eine turboartige Wohlstandssteigerung, die nach den immensen sozialen Verwerfungen der ersten Nach-Sozialismus-Jahre seit in etwa Mitte der Neunziger andauert. Es ist zwar immer noch nicht gelungen, der – zumindest nach Meinung von „The Economist“ und (was schon erstaunen muss) Vaclav Klaus – in den letzten zwei Jahrzehnten erfolgreichsten Volkswirtschaft Europas viel innovative Kraft abzugewinnen. Es gibt jedoch keinen Grund zur Annahme, es werde immer so bleiben, auch nachdem die gegenwärtigen Wachstumsquellen ausgeschöpft sein werden.
Trotz und vielleicht wegen des wirtschaftlichen Erfolges ist es im Lande zu einer tiefen sozialen Spaltung gekommen, die sich mittlerweile in vielerlei Hinsicht mit der politisch-kulturellen Trennlinie zwischen dem „traditionellen“ und dem „offenen“ Polen deckt. Die weitere Wohlstandssteigerung könnte zwar dazu beitragen, die Folgen dieses Bruchs zu mildern. Der polnische Staat scheitert jedoch bisher an dieser Aufgabe. Und nicht nur daran.

Fortsetzung folgt

15.12.2012

Erfolg oder Sumpf? Polen-Reihe 1: Über die föderale Idee Piłsudskis, den Sumpf bzw. den großartigen Erfolg Polens.

Für die (Vor- und Nach-)Weihnachtszeit habe ich mich dazu entschlossen, hier über Polen zu schreiben. Denn es ist in den letzten Jahren für Deutschland und Europa noch wichtiger geworden als es ohnehin gewesen war. Es wird noch wichtiger werden. Darüber hinaus hatte ich vor einigen Wochen über Polen zu sprechen gehabt, so dass mir augenblicklich leicht fällt, einige Gedanken zu diesem Land zu formulieren. Die "Polen-Reihe" wird mit der Beantwortung der in diesem Post gestellten Frage beendet sein. 

http://en.wikipedia.org/wiki/Jozef_Pilsudski
Ein großer polnischer Geist, der „Staatschef“ von 1918-1922, Józef Piłsudski, warb im Ersten Weltkrieg für die föderale Neuordnung von „Intermare“, wie er den Raum zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer nannte. Piłsudski wollte Polen in eine Föderation jener Staaten einbinden, die dort auf den Trümmern gescheiterter Imperien entstanden. Da er in seinem ukrainischen Verbündeten Symon Petlura keinen ausreichend starken Partner zur Verwirklichung dieser Pläne gefunden hat, sah er sich dazu gezwungen, 1921 die Ukraine zwischen Polen und dem bolschewistischen Russland zu teilen. 

http://en.wikipedia.org/wiki/Symon_Petliura
Daraufhin besuchte er die im polnischen Szczypiorno internierten ukrainischen Offiziere, die vor Kurzem noch an seiner Seite gegen die Bolschewiki gekämpft hatten, um ihnen einen einzigen Satz zu sagen: „Ich entschuldige mich bei Ihnen, meine Herren, ich entschuldige mich sehr“. Es war dieses Fiasko der föderalen Idee, die Piłsudski trotz seines großartigen Sieges über das bolschewistische Russland im Jahre 1920 zur Vorhersage hingerissen haben mag: „Ich habe das Rad der Geschichte für 20 Jahre aufgehalten“. Die Katastrophe des Jahres 1939 hat ihm Recht gegeben.

Und dennoch hat Polen im Jahre 1989 – also sechs Jahrzehnte nach dieser Katastrophe – seine Unabhängigkeit wieder erlangt. Nur scheinbar widerlegt diese Tatsache die Konzeption Piłsudskis. Denn die erst zwei Jahrzehnte junge polnische Freiheit wird durch die Realität gewordene föderale Idee geschützt – diesmal die (gesamt?)europäische. Die Europäische Union entzieht der auf die Vernichtung Polens abzielenden deutsch-russischen Zusammenarbeit in einem noch größeren Maße den Boden als der ursprüngliche „Intermare“-Föderalismus. Die Mitgliedschaft Polens in der NATO kommt noch hinzu, in der es ausgerechnet Deutschland als einen Bündnispartner vorfindet.
Die Freiheit Polens schien besonders nach dem Januar-Aufstand 1863, dem seit dem ausgehenden XVIII. Jahrhundert dritten verlorenen polnischen Kampf um die Unabhängigkeit (die napoleonischen Kriege und den Völkerfrühling nicht mitgerechnet) eine „romantische“ Chimäre zu sein. Damals, vor knapp 150 Jahren stellte sich der Dichter Cyprian Kamil Norwid im französischen Exil die Frage: 
(http://en.wikipedia.org/wiki/Cyprian_Kamil_Norwid
 
„Was hat sich nicht verändert/ seitdem ich die Welt betrachte/ Ist denn alle Wirklichkeit/ bloß der Vorführung entracte?/ Leben – bloß des Sterbens Weile? Jugend – Tag der grauen Haare?/ Vaterland? Sind es bloß seine tragischen Jahre?“

Wir werden niemals erfahren, welcher literarischen Gattung dieses 1882 in einem Pariser Armenhaus verstorbene Genie die polnische Wirklichkeit nach 1989 zugeordnet hätte: immer noch der Tragödie, der Komödie oder vielleicht der Farce.
http://en.wikipedia.org/wiki/Zbigniew_Herbert

Ein gegenwärtiger großer polnischer Dichter, Zbigniew Herbert, verfasste zu dieser Wirklichkeit 1995 das „Ratlosigkeit“ betitelte Gedicht. Den Anlass dazu lieferten ihm die Vorwürfe gegen den damaligen Premierminister der Republik Polen, Józef Oleksy, er hätte für das KGB und das FSB spioniert.

Herbert bekannte die Absicht, seinen postkommunistischen Premierminister „mit dem wohlwollenden Gesichts des Abts/ in einem kommerziellen Kloster“ zum Duell herauszufordern. Er verwarf diesen Gedanken jedoch. Denn 
Józef Oleksy

„hier nirgendwo/ gibt es gestampfte erde/ es ist schwer/ die pathetische geste/ Eugen Onegins nachzuahmen/ wenn man versinkt/ bis zu den Knien/ bis zum Hals/ im Sumpf“.

Ist Polen tatsächlich zum Sumpf verkommen? Oder stellt es in den letzten zwei Jahrzehnten – wie ausgerechnet in der Polen gegenüber oft so unfreundlichen deutschen Presse seit einigen Jahren immer wieder lautstark behauptet – das europäische Erfolgsland schlechthin dar?





Fortsetzung folgt

23.11.2012

Postkommunistische Eliten: nicht mehr die Demokratie steht zur Debatte, sondern ihre Qualität



Es ist der Text des Vortrages, den ich am 7. November im Rahmen des 5. Höhenschönhausen-Forums in der Gedenkstätte gehalten habe.


Das öffentliche Interesse für die Problematik der postkommunistischen Eliten ist heutzutage nicht mehr so groß wie vor zwei Jahrzehnten. Es war früher bestimmt durch die noch gegenwärtige Diskreditierung des Kommunismus, welcher der Wunsch nach einer politischen Säuberung – nach der Entfernung der Kommunisten von Staatsposten – folgte. Diesem Wunsch ist in den meisten betroffenen Ländern auch scheinbar entsprochen worden. Denn die Gallionsfiguren der alten Ordnung – d.h. die kommunistische Parteispitze – wurden tatsächlich von der Macht entfernt. Dieser spektakuläre Vorgang hatte aber bloß symbolische Bedeutung, und zwar im zweierlei Sinne. Zum einen handelte es sich bei den kommunistischen Spitzenfunktionären definitionsgemäß um eine sehr kleine Gruppe. Zum anderen geschah es oft, dass diese Säuberung von jenen Parteigenossen durchgeführt wurde, die daraufhin – bereits zu „Sozialdemokraten“ umgewandelt – selbst die Macht im Staat übernahmen (unübersehbar war diese Entwicklungsvariante in Bulgarien nach November und in Rumänien nach Dezember 1989).
Sieht man von der politisch durchaus wichtigen Symbolik ab, so betrifft die Frage nach dem Elitenwechsel primär Abertausende Funktionäre der Nomenklatura, darunter selbstverständlich der kommunistischen Partei und ggf. der „Blockflötenparteien“, die selbst in den vom Elitenimport geprägten neuen Bundesländern nicht alle ausgewechselt werden konnten. Es wundert nicht, dass die Vergangenheit großer Elitensegmente als graue Funktionärsmasse heute kaum jemanden interessiert. Von daher birgt die Problematik der ehemals kommunistischen Eliten so gut wie keine politische Brisanz in sich, und zwar sowohl in Deutschland als auch in den anderen postkommunistischen Ländern. Das gilt sogar für die Politikwissenschaft. Hatten wir es noch in der ersten Hälfte der neunziger Jahre mit einer Flut von empirischen Studien zur Entstehung der postkommunistischen Eliten zu tun, so werden heute in den wissenschaftlichen Publikationen dazu die früheren Untersuchungsergebnisse bloß aufgefrischt. Auch die Tatsache spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle, dass die Wirklichkeit die anfangs vielleicht zentrale These der postkommunistischen Elitenforschung falsifiziert hat. Diese besagte, dass die Demokratie nach dem Kommunismus dann die größten Chancen hat, wenn das Ausmaß des Elitenwechsels (d.h. der „Elitenzirkulation“) wesentlich größer ist als das Ausmaß der Elitenkontinuität (der „Elitenreproduktion“).
Dabei sind Probleme mit der Demokratisierung damals tatsächlich ausgerechnet in jenen Ländern unübersehbar geworden, in denen die Elitenkontinuität am größten war: Belarus, Bulgarien, Rumänien, Russland, die Ukraine. In den Ländern dagegen, in denen die politische Säuberung im direkten Anschluss an den politischen Umbruch größere Ausmaße annahm und wo anschließend newcomer zu den Elitenposten vorrückten, konnte man über das demokratische Wunder staunen: neue Bundesländer,  Polen, Tschechien, Ungarn. In diesen Ländern – und das ist das wichtigste Ergebnis der empirischen Elitenforschung der neunziger Jahre – stellte sich, statistisch betrachtet, ein ausgewogenes Verhältnis der Elitenreproduktion (Kontinuität) und der Elitenzirkulation (Diskontinuität) ein.
Diejenigen Beobachter, die die Affinität von Elitenwechsel und Demokratie zu einem Gesetz erhoben, übersehen oder bestenfalls missverstanden zugleich einen anderen eigentlich nicht übersehbaren Befund der Elitenforschung. Die relativ starke Elitenzirkulation fand nämlich in jenen Ländern statt, die sich sonst bezüglich der Eliten zuweilen markant voneinander unterschieden. Diese Unterschiede betrafen so wichtige Merkmale wie:
die Loyalität der alten Eliten gegenüber dem kommunistischen System. Diese Loyalität war in der DDR ungleich stärker ausgeprägt als z.B. in Ungarn, von Polen ganz zu schweigen;
die Stärke der antikommunistischen Gegenelite im kommunistischen System. In Polen war diese sehr stark, während er in der DDR und der Tschechoslowakei bekanntlich politisch weitestgehend irrelevant war;
den Elitenimport. Die neuen Bundesländer erlebten ihn in einem Ausmaß, das aus nachvollziehbaren Gründen in den anderen Ländern nicht Mal ansatzweise auftreten konnte.
Wer also den demokratischen Erfolg der postkommunistischen Transformation auf die relativ starke Elitenzirkulation zurückführt, der sieht zugleich den Zustand der jeweiligen kommunistischen Elite und der jeweiligen Gegenelite wie auch den äußeren Einfluss auf die jeweilige Demokratisierung als belanglos an. Ebenso belanglos müssen ihm auch die weiteren – neben dem relativ hohen Grad der Elitenzirkulation – empirisch belegten Ähnlichkeiten der Elitenentwicklung in allen postkommunistischen Demokratien vorkamen:
die Anpassung der alten Nomenklatura-Eliten an das neue, demokratische System erfolgte in einem atemberaubenden Tempo,
die Abwanderung der beträchtlichen Teile politischer und ideologischer Eliten in die Wirtschaft,
„revolution of deputies“ – der Aufstieg der zweiten Reihe der Nomenklatura,
der später – nach der erfolgreichen Institutionalisierung der Demokratie – erfolgte Aufstieg der ehemaligen Elitenangehörigen bzw. zumindest der ehemaligen Parteimitglieder oder der Spitzel der kommunistischen Sicherheitsdienste in manchen Elitensegmenten (etwa in Parlamenten – die Parlamente der neuen Bundesländer stellen dafür ein anschauliches Beispiel dar).
All diese von der Forschung konstatierten Ähnlichkeiten und Unterschiede der Elitenentwicklung lassen den Schluss zu, dass nicht so sehr das Ausmaß des Elitenwechsels die Chancen der Demokratie im Postkommunismus bestimmt, sondern dass diese Chancen von anderen, mit den Eliten bestenfalls zusammenhängenden Faktoren abhängen.  Das Beispiel des im Postkommunismus einmaligen Elitentransfers in die neuen Bundesländer bestätigt es: Obwohl in den neuen Bundesländern die entscheidenden Elitenpositionen durch „Westimporte“ übernommen wurden und es in der DDR kaum eine antikommunistische Gegenelite gegeben hatte, fand in den neuen Bundesländern ein im Vergleich zu den anderen postkommunistischen Ländern durchaus beachtenswerter Aufstieg der newcomer statt.
Welche Faktoren begünstigten also die stärkere Elitenzirkulation und die rapide gewachsene demokratische Loyalität der vom alten System übernommenen Eliten? Sowohl die Elitenzirkulation als auch die neue Systemloyalität schufen jene konsensuell vereinte Elite, die ohne jeden Zweifel jede Demokratie braucht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Faktoren hinweisen:
Es tat der Demokratie gut, wenn die Kommunisten bzw. ihre direkten Nachfolger nach den Gründungswahlen in die Opposition gehen mussten. In dieser Rolle lernten sie sehr schnell, was für ein gutes System die rechtsstaatliche Demokratie darstellt. Aber nicht nur in den späteren postkommunistischen Demokratien, sondern auch in Belarus, der Ukraine und Russland verloren die Kommunisten die ersten freien Wahlen. Ihre Erfahrung als politische Opposition erklärt also alleine ihre neue Akzeptanz der Demokratie nicht.
Die Demokratien entstanden ausschließlich in jenen postkommunistischen Ländern, die von jeher dem westlichen Kulturkreis angehören. Diese Zugehörigkeit hat offenbar irgendwie auf die Bereitschaft der postkommunistischen Eliten, den Verfahrenskonsens westlicher Demokratien zu respektieren, auch einen großen Einfluss ausgeübt. Bei der Erkundung dieses Feldes hilft uns aber die statistisch-empirische Elitenforschung kaum weiter.
In Bezug auf die Eliten im Postkommunismus sind auch die Fragen ihrer Kompetenz und ihrer Bindung an das Gemeinwohl sehr bedeutsam. Diese Faktoren bestimmen jedoch nicht so sehr die Chancen der postkommunistischen Demokratie, sondern bloß ihre Qualität. Und diese lässt noch viel zu wünschen übrig.

02.11.2012

Parlamentswahlen in der Ukraine

Die Ukraine hat am 28. Oktober das neue Parlament gewählt. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass sich die ukrainischen Wähler um die arrogant-selbstgefällige Ukraine-Ignoranz, die im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland blütete (dazu mein Post "Den zum Boykott Aufrufenden ist das Schicksal Julia Tymoschenkos egal"), gar nicht scheren (nichts Anderes haben auch Beobachter mit gesundem Menschenverstand erwartet).

Abgesehen von Unregelmäßigkeiten bei der Wahldurchführung, die offenbar weniger als bei den russischen Wahlen Ende des vorangegangenen und im Frühling dieses Jahres waren, wurde ein anderer negativer Trend sichtbar. In der Mitte des politischen Spektrums, die in der Ukraine selbst manchmal "schwarzes Loch" genannt wird, hat sich kaum etwas verändert, obwohl eine neue Kraft - die "Udar" Vladimir Klitschkos - auf Anhieb ins Parlament einzog. Denn diese Partei ist genauso form- und inhaltslos wie die "Regionalisten" von Janukowytsch oder die "Bat'kiwschtschina"-Opposition: kein Programm, das den Namen verdient, kein Ethos, dafür aber undurchsichtige Finanzierung und unverschämter Populismus. Nichts Neues, haben sich doch die meisten postsowjetischen Gesellschaften an diese Erscheinungen gewöhnt.

Bedrohlicher als diese Kontinuität in der Mitte ist die nun sichtbare Radikalisierung der breit gewordenen Ränder, also ausgerechnet dieser Bereiche, die etwas Ideologie, Programm, Ethos und Struktur aufweisen. Sowohl die Kommunisten, die in den neunziger Jahren bereits tot zu sein schienen, als auch die faschistoide (bzw.rechtsradikale) "Swoboda" sind die einzigen tatsächlichen Gewinner der Parlamentswahlen. Dabei haben die Rechtsradikalen zum ersten mal auch im Osten nennenswerte Unterstüzung bekommen.

Radikale Kräfte und "das schwarze Loch" prägen also die politische Bühne, wobei die Erstgenannten Aufwind verspüren. Dass sich die Mehrheit der Bevölkerung trotzdem stets für die EU-Integration ausspricht, ist in diesem Zusammenhang eher belanglos. Denn es ist eben diese Mehrheit, die letztlich mit ihrer Abstimmung dafür sorgt, dass die genannten Kräfte, die außerstande bzw. dagegen sind, die Ukraine zur EU zu führen, die ukrainische Politik bestimmen.

04.10.2012

Romney for president!

Es wäre wunderschön, wenn Mitt Romney die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen würde. Offenbar haben es die Amerikaner doch nicht verdient und sie werden trotz allem - auch trotz des gestrigen Sieges Romneys in der ersten Fernsehdebatte - mehrheitlich für Barack Obama stimmen. Zum Glück verkraftet die Demokratie oft die groben Fehler der Wähler.

Man muss sich aber fragen, wie lange noch die westliche Welt ein überschuldetes Amerika verkraften kann. Es reicht aus, dass die (West)Europäer ihren Karren für mehrere Jahre (wenn es gut geht) in Dreck gefahren haben. Vor dem Hintergrund dieses Versagens des Eurolandes ist ein Präsident, der die ohnehin horrenden Schulden der USA in den kommenden Jahren weiterhin erhöhen will, ein Unglück. Ganz zu schweigen davon, dass er ein Produkt seiner Zeit zu sein scheint, ein kulterelles Erzeugnis des Wohlstandsnihilismus.

02.10.2012

Nach der Parlamentswahl ist Lukaschenka international isoliert und politisch geschwächt


Es gibt zwei Missverständnisse über das von Aljaksandr Lukaschenka regierte Land. Zum einen wird es in Deutschland „Weißrussland“ genannt, obwohl es nicht einen Teil von Russland, sondern von Rus‘ darstellt. Rus‘ wiederum bildet einen Raum, der neben Russland die Ukraine und eben – so der richtige Name – Belarus umfasst (dazu mehr in einem früheren Eintrag hier - über die Kulturtasche der deutschen Politik). Zum anderen wird Lukaschenka als der „letzte Diktator Europas“ apostrophiert, als wären Wladimir Putin in Russland oder Wiktor Janukowytsch in der Ukraine, die auch politische Opposition verabscheuen, lupenreine Demokraten.

Was unser Auswärtige Amt mit der flegelhaften Übersetzung des Landesnamens sprachlich vorgibt, das versucht der Kreml in Realität umzusetzen: Putin will aus Belarus tatsächlich „Weißrussland“ machen, d.h. eine Republik der Russländischen Föderation. Zu Beginn wünscht er sich den russischen Rubel und eine Privatisierung, an der sich russische Oligarchen beteiligen dürfen, im westlichen Nachbarland. Lukaschenka, der dort die Kontrolle über die gesamte (Staats)Wirtschaft ausübt, ist zwar auf russische Kredite angewiesen, aber nicht um den Preis der Selbstentmachtung. Indem er sich gegen die Forderungen Putins stemmt, verteidigt er, ein Sowjetmensch ohne nationale Gefühle für Belarus, paradoxerweise die belarussische Unabhängigkeit.

Die Europäische Union will diese Unabhängigkeit vor Russland schützen. Vor einigen Jahren hatte sie sogar Lukaschenka für Demokratisierungsreformen mit Krediten unterstützt. Dabei hatte sie den Fehler begangen, dies im Voraus zu tun. Lukaschenka hatte das Geld genommen und gleich darauf politische Schraube wieder zugedreht. Da er seitdem die Klugheit der westeuropäischen Politiker nicht allzu hoch einschätzt, wollte er im Vorfeld der Parlamentswahlen am letzten Sonntag wieder das Spiel mit ihnen aufnehmen. Er ließ die meisten politischen Gefangenen frei und zeigte sich in Verhandlungen mit der EU konziliant.

Doch die EU hat ihre Lektion gut gelernt. Sie forderte nun, dass der belarussischen Opposition tatsächlich Möglichkeiten freier politischer Betätigung eingeräumt werden sollen. Ausgerechnet auf diesem Feld hatte der Präsident es nicht vor, die Europäer zufriedenzustellen. Mit Repression brachte er den Großteil seiner zerstrittenen politischen Gegner dazu, die Wahlen zum Obersten Sowjet zu boykottieren. Nach dem Wahlakt ließ er die gefälschten Wahlergebnisse wieder von der gleichen nach einer sowjetischen Universtitätsdozentin aussehenden Frau bekanntgeben, die seit Jahren die Vorsitzende der staatlichen Wahlausschüsse mimt. Wie gewöhnt holte er sich zudem die „russischen Beobachter“ ins Land, darunter auch im eigenen Land erfahrene Wahlfälscher, die seit Sonntag den „demokratischen Charakter der Wahlen“ loben. Von einem polnischen Journalisten gefragt, wie hoch denn die Wahlbeteiligung tatsächlich war (unabhängige Beobachter gehen von knapp 40% aus, während das Wahlgesetz 50% vorschreibt), empfahl der Präsident öffentlich, Polen solle sich in Sachen freier Wahlen Belarus zum Vorbild nehmen.

Aber nur scheinbar ändert sich in „Weißrussland“ nichts. Denn das diesmal außergewöhnlich große Ausmaß der Wahlfälschung und die Wirtschaftskrise sprechen dafür, dass in der Bevölkerung die früher hohe Unterstützung für Lukaschenka bröckelt.

Dieser Artikel ist in einer leicht geänderten Fassung in der "Mittelbayerische Zeitung" vom 28.09.2012 erschienen.

15.07.2012

Über den Dummkopf (bzw. die Definitiv-Idiotin)

Schicken Sie den Ihnen bekannten Dummköpfen diesen Text:


Wo kommt der Dummkopf (bzw. die Idiotin) her, wie wird er (sie) hergestellt? Diese Frage beantwortet ein chinesischer Spruch am besten: "Eine Frau braucht zwanzig Jahre, um aus ihrem Sohn einen Mann zu machen – und eine andere macht in nur zwanzig Minuten einen Dummkopf aus ihm". Ein richtiger Dummkopf (auch weiblich) wird freilich schon während der ersten zwanzig Minuten seines Lebens ein solcher (eine solche). Und er (sie) bleibt es sein ganzes Leben lang - eine tragische Figur (diese Tragik ist umso trauriger, als die eigene Dummheit ihm/ihr niemals bewusst werden kann). Er (sie) kann an seiner (ihrer) Bestimmung nichts ändern, was François de La Rochefoucauld prägnant formulierte: "Es gibt Leute, die dazu bestimmt sind, Dummköpfe zu sein, die Torheiten nicht nur aus freien Stücken begehen, sondern die vom Schicksal dazu gezwungen sind". Das Dumme am Handeln des Dummkopfs ist, dass er (sie)  - so Helen Rowland - "das tut, was er nicht lassen kann, während der Weise lässt, was er nicht tun kann".
Der Dummkopf ist aber nicht bloß eine lächerliche Figur, die - wenn männlich - mit Vorliebe weiße Socken zu Sandalen trägt sowie jede Bewegung oder - wenn weiblich - Zähneputzen verabscheut und in jedem Satz das Wort "definitiv" verwendet. Er (sie aber nicht, dafür ist sie zu dumm) kann zuweilen gefährlich werden, was Franz Grillparzer erkannt hatte: "Ein Dummkopf bleibt ein Dummkopf nur für sich, im Feld und Haus; doch wie du ihn zu Einfluss bringst, so wird ein Schurke draus". Auch als Schurke überschätzt er sich freilich maßlos. "Niemand glaubt sich geeigneter“, so Luc de Clapier Vauvenargues, "einen Menschen von Geist zu hintergehen, als ein Dummkopf“. 
Es versteht sich von selbst, dass der Dummkopf (die Idiotin) alles, was ihm (ihr) das Bildungssystem bietet, nutzen wird, um sich als geistig voll entwickelt darstellen zu können. Ganz sicher wird er (sie) promovieren, falls es das ermöglicht. Trotzdem gilt es: "Du bleibst immer, was Du bist". Deshalb ist  der Dummkopf (auch die Idiotin) zum Scheitern verurteilt. Vor diesem Hintergrund ist der Satz Grischa Laubs verständlich, der Dummkopf sei ein Idiot, der keine Karriere gemacht hat.

13.07.2012

Der Streit um den EU-Staat - Part 3 - Antwort auf Carsten Germis.

Lieber Carsten,
Deine schöne Kritik hat mich sehr gefreut und zu dieser Antwort animiert. Ich werde mich dabei an die Struktur Deines Beitrags halten, der mit der Feststellung beginnt, dass ich Deine Grundprämisse missverstehe: Du wärst entgegen meiner Behauptung doch ein Anhänger einer europäischen Föderation. Der endgültigen Klärung halber hätte es freilich nicht geschadet, wenn Du - wie ich zuvor - vom "europäischen Staat" geschrieben hättest. Denn eine europäische Föderation - zumindest im breiten Sinne des Begriffs - haben wir seit Langem. Diese ist aber zu wenig politisch ausgerichtet und deshalb außerstande, ihre gegenwärtigen Probleme und somit auch viele Probleme der EU-Staaten zu lösen. Diese Probleme können ausschließlich durch einen europäischen Souverän - durch den von den Nationalstaaten unabhängigen europäischen Bund - gelöst werden. Somit sind wir beim Deinem Punkt 1 angekommen.
1) In der Tat werden die wichtigsten Entscheidungen der EU in den letzten Jahren auf einem nicht-demokratischen Weg getroffen. Deine Beispiele stimmen. Du übersieht aber die Tatsache, dass es auch vor der Euro-Krise so war. Der berühmte "Motor der europäischen Integration", nämlich Deutschland und Frankreich, haben sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt, die anderen EU-Mitglieder herumzukommandieren. Vor Jahren schon habe ich in diesem Zusammenhang vom "rechtsstaatlichen Autoritarismus" in der EU geschrieben - im Gegensatz zu den meisten hiesigen Politkwissenschaftlern, die in diesem Zusammenhang bevorzugen, verharmlosend bloß von "Demokratie-Defiziten" zu sprechen. Beispiele für das deutsch-französische Kommandieren? Bitte sehr: Bei der Einführung vom Euro und überhaupt beim Maastrichter Vertrag oder bei der de facto Abschaffung des Stabilitätspakts (als beide Staaten sich erfolgreich geweigert haben, Strafen für ihre schlampige und deshalb vertragswidrige Fiskalpolitik zu zahlen) haben die Deutschen mit den Franzosen den Anderen abverlangt, was sie wollten. Und als vor gut einem Jahr sich Frankreich wegen seiner augenblicklichen Wirtschaftsschwäche mit der Rolle des deutschen Juniorpartners abzufinden begann, hat das in den hiesigen Medien eine Welle nationalen Zufriedenheit ausgelöst. Die Amerikaner würden endlich wissen, bei wem sie anzurufen haben, wenn es um die EU-Politik geht - nämlich bei Angela Merkel. Ich finde es nicht redlich, unsere Union ausschließlich durch nationale Brille zu sehen. Mir geht es dabei nicht um jenes oder anderes Land. Ich finde es unter meiner Würde, auf diese Art und Weise regiert zu werden. Gut, dass wir beide eine demokratische Union wünschen, d.h. eine ohne die deutsch-französische Führung, die sie zugrunde richten kann.
2) Ich bin im Gegensatz zu Dir ein Anhänger der Transferunion. Die historische Leistung der EU besteht gerade darin, dass sie als Transferunion sowohl die Starken als auch die Schwachen zusammengebracht und ihnen neue Entwicklungschancen gegeben hat. Die Voraussetzung dafür war immer, dass es für die Transfers klare Regeln gab, die auch eingehalten wurden. Auch der Euro-Raum braucht Regel, deren Einhaltung richtig - von einer supranationalen staatlichen Struktur - kontrolliert und notfalls gegen den Willen der nationalen Regierungen und Parlamente erzwungen wird. So eine Struktur lehnen aber nicht nur die Franzosen, die Spanier und die Italiener, sondern auch die Deutschen ab. Wenn einige kluge deutsche Politiker die Notwendigkeit einer solchen Struktur bloß andeuten, fallen ihnen die hiesigen vaterländischen Medien in den Rücken (zusammen mit Herrn Seehofer).
Zu Polen: Es beteiligt sich freiwillig mit sechs oder sieben Milliarden Euro an der Euro-Rettung. Vorwiegend aus politischen Gründen übrigens. Nebenbei bemerkt: Es ist ein typischer Scherz der deutsch-französisch geführten Union, dass Länder wie Polen wegen der Nicht-Einhaltung jener Maastricht-Kriterien nicht der Euro-Zone beitreten durften (das finde ich richtig), die sie in einem höheren Ausmaß erfüllten als viele Länder der Euro-Zone (inbegriffen die größten). 
3) Ob Deutschland vom Euro ökonomisch profitiert oder nicht, weiß ich nicht. Gerade der Großteil der deutschen Ökonomen, die sich immer in die Tagespolitik einmischen, aber die ökonomischen Probleme der Gegenwart kaum zu erkennen imstande sind, wird offensichtlich alles sagen, was der politische Mainstream vorgibt. Der Euro stellt bloß eine Währung dar. Es gilt nun, diese Institutionen, die sie absichern (etwa die EZB) von den Nationalstaaten (augenblicklich in erster Linie von Deutschland und Frankreich) unabhängig zu machen. Wenn dies nicht gelingt, werden wir alle sehen, ob der Euro für Deutschland sowohl ökonomisch als auch politisch gut oder schlecht war.
4) Unsere Kanzlerin hat auf dem letzten Brüssler Gipfel nur das bekommen, was sie sich durch ihre sture und immer verspätete Politik auch verdient hat. Die Schulden im Euro-Raum sind zu vergemeinschaften. Erstens deshalb, weil nur so die Krise beigelegt werden kann. Zweitens deshalb, weil alle von der Schuldenmacherei zwei Jahrzehnte lang profitiert haben. Drittens, weil viele vorsätzlich gegen den Stabilitätspakt verstoßen haben. Der französische Präsident Holland ist für mich zwar ein typisch französischer Sozialist, d.h.nationalistisch wie ein typischer deutscher Sozialdemokrat, aber noch weniger von der Marktwirtschaft verstehend (verzeihe mir bitte dieses Spiel mit Vorurteilen). Gut an ihm ist jedoch ein sehr wichtiger Umstand: Er veranschaulicht die wahren Triebkräfte der heutigen Union. Wenn die nationalen Interessen der Deutschen und Franzosen gegensätzlich gelagert erscheinen, gibt es in der EU keinen "Motor", sondern ausschließlich ein vom früheren "Motor" konstruiertes beschämend undemokratisches und intransparentes Regelwerk.
Wenn das Regelwerk durch die Schaffung des souveränen europäischen Bundes mit einem echten Parlament und einer echten Regierung demokratisch wird, dann wird sich auch mit Zeit die europäische Identität einstellen, die die nationale und regionale ergänzen wird.
5) Du schreibst: "Es ist richtig, der Euro verlangt die europäische Integration der Fiskalpolitik. Nur, was derzeit geschieht, dient eher dazu, dass die europäischen Völker sich wieder auseinander entwickeln".  Ich sehe das anders: Die Fiskalpolitik ist dazu da, einen Teil der Rahmenbedingungen für das Wirtschaften im Euro-Raum zu vereinheitlichen und somit die Währung stabil zu halten. Die Länder mögen sich dann nach wie vor unterschiedlich entwickeln, wie Saarland samt Mecklenburg-Vorpommern vs. Hamburg, wie NYC vs. Nebraska, wie Moskau vs. Dagestan usw. Aber ich stimme mit Dir damit überein, dass kaum eine seriöse Debatte über die europäischen Fragen geführt wird. Zu stark sind dafür die Tabus, zu groß die nationalen Augenklappen der Meinungsmacher, zu wenig ausgeprägt das Verständnis für die EU. Es bleibt also doch auf die heilende Wirkung der Krise zu hoffen. Schade, dass sie sich dafür  noch vertiefen muss.
Herzliche Grüße
Jerzy

08.07.2012

Fortsetzung des Streits über den EU-Staat - die Antwort von Carsten Germis

Carsten Germis hat eine Antwort auf meinen Beitrag "Mein Streit über den EU-Staat" (http://www.blogger.com/blogger.g?blogID=9011582832729205701#editor/target=post;postID=2964348723955527527) verfasst. Sobald ich etwas Zeit habe, nehme ich hierzu Stellung.


Lieber Jurek,

hier nun also endlich die Antwort. Zuerst einmal stimmt Deine Grundprämisse nicht: Ich lehne eine europäische Föderation nicht ab, im Gegenteil. Nur, nicht jeder, der sich gegen das wendet, was da jetzt seit 2 Jahren von den Euro-Rettern veranstaltet wird, ist deswegen gleich ein antieuropäischer, wieder geborener Nationalist. Hier ein paar Anmerkungen zur Diskussion:
1) Ich wundere mich darüber, dass gerade Du als Politikwissenschaftler dazu schweigst, dass die nationalen Regierungen (und die EU) Verfassungs- und Vertragsbruch zur Grundlage ihres neuen Europas machen wollen. Kein "Bail out", sagen die Maastrichter Verträge zum Euro ganz eindeutig. Das Gegenteil geschieht. Ein Skandal! Und wo bleibt bei all dem eigentlich die demokratische Kontrolle? Die Griechen müssen sich von EU und IWF ihre Politik vorschreiben lassen. Die Finnen und die Deutschen gehen mögliche Zahlungsverpflichtungen über hunderte von Milliarden Euro ein, über die ihre nationalen Parlamente letztlich nicht mehr entscheiden können. Das Demokratieprinzip wird dreist ausgehebelt; politische Eliten entscheiden unter dem Druck der Finanzmärkte (und verteilen ganz nebenbei in einem historisch beispiellosen Maß Volksvermögen zugunsten von Kapitalbesitzern um, die sich verspekuliert haben - man müsste glatt mal wieder Karl Marx lesen). Wundert es Dich da, dass sich immer mehr Menschen von der gesellschaftlichen Ordnung abwenden? Ich sehe darin eine der politisch größten Gefahren; deswegen ist das Demokratieprinzip für mich auch in dieser Debatte keine Kleinigkeit, die ich einfach unter den Tisch fallen lasse.
2) Was steht zur Debatte? Es geht um eine Transfergemeinschaft, in der - wahrscheinlich dauerhaft - der Norden (zu dem nach einem Euro-Beitritt Polens übrigens auch gehört, dass sich von der wirtschaftlichen Misere der EU ja erfreulich abgekoppelt hat; auch Polen würde zahlen) die südeuropäischen Staaten mit finanziert. Gleichzeitig hat der Norden aber keine Kontrolle über die dortige Fiskalpolitik und keinen Einfluss darauf, dort wettbewerbsfähige Strukturen zu verlangen. Bundeskanzlerin Merkel weist deswegen zu recht darauf hin, dass mit der Transferunion eine stärkere politische Integration, also die Abtretung von Souveränität an die EU, einhergehen muss. Das lehnen vor allem Frankreich, aber auch Italien und Spanien derzeit ab. Unabhängig davon, wie es bei einer Haushaltskontrolle der EU um das demokratische Prinzip bestellt ist, liegt der "moral hazard" des jetzt beschrittenen Weges offen zu Tage. Wenn deutsche Sparkassenkunden für die Risiken spanischer Großbanken haften (die selber keine entsprechende Einlagensicherung haben), im Gegenzug aber keine Einflussmöglichkeit bekommen, was ist dann wohl die Folge? Warum sollte ich etwas ändern (was meistens ja mit Besitzstandsverlusten verbunden ist), wenn ich weiß, dass ich so oder so rausgehauen werde? Auf das Problem des "moral hazard" hat die EU bislang keine Antwort gefunden. Auch nicht darauf, wie denn mögliche Entscheidungen der EU demokratisch legitimiert werden, wenn sie in die nationale Haushaltspolitik, sagen wir Griechenlands, eingreifen?
3) Deutschland profitiert keineswegs so stark vom Euro wie behauptet. Vor Einführung des Euro haben deutsche Unternehmen deutlich mehr in die EU importiert als derzeit. Bis 2008, vom vielen vergessen, hat der Euro dazu beigetragen, dass in Deutschland kaum investiert worden ist, weil das Geld in den Konsum nach Südeuropa floss.
4) Die Krise zeigt, dass Europa (nicht nur die nationalen Eliten) von der Idee eines europäischen Staatsvolks, ja sogar einer der eigenen Nationalität beigestellten europäischen Identität weiter entfernt ist denn je. Wie anders ließen sich die Siegesfeiern des Herrn Monti nach dem letzten Brüsseler EU-Gipfel sonst erklären, als Merkel auf den Weg Roms, Madrids und Paris' eingeschwenkt ist (und was soll der Arbeiter in Wanne-Eikel, der bis 67 arbeiten darf dazu denken, dessen Lohn mittlerweile unter dem derjenigen liegt, die er unterstützt)? Wenn Monti und Hollande in Kategorien von Sieg und Niederlange denken (und das auch noch offen aussprechen), wie soll da europäische Solidarität entstehen?
4) Es ist richtig, der Euro verlangt die europäische Integration der Fiskalpolitik. Nur, was derzeit geschieht, dient eher dazu, dass die europäischen Völker sich wieder auseinander entwickeln. Wer in Deutschland (oder den anderen Euro-Ländern) führt diese Debatte eigentlich offen? Wer sagt, worum es wirklich geht? Wer wirbt für eine europäische Föderation, die die Fiskalpolitik auf die europäische Ebene hebt? Und wo bleibt eigentlich das Subsidaritätsprinzip? Fragen über Fragen.

Und ein herzlicher Gruß
Carsten Germis

04.07.2012

Warum Nationen Fußballmeisterschaften brauchen

Die deutsche Nation will die beste sein. Dafür muss sie die anderen besiegen. Es zeigt sich, dass die erste Nation, die sich ihr in den Weg stellt, keinen besonders starken Widerstand leistet. Auch die zweite und die dritte sind erstaunlich schnell besiegt. Nachdem auch der bisher vermeintlich stärkste Feind geschlagen ist, wird der Endsieg für sicher gehalten - gegen alle Rationalität. Dann aber kommen die Engländer. Es geht nicht mehr so leicht wie gegen Polen, Dänemark, Norwegen und Frankreich. In der Battle of Britain schießen die Verteidiger ca. 2000 deutsche Flugzeuge ab. England ist gerettet, der Zwei-Fronten-Krieg unumgänglich und die katastrophale deutsche Niederlage eingeleitet. 
Wie gut, dass sich die Nationen Europas heute bloß auf Fußballplätzen bekämpfen.

25.06.2012

Mein Streit über den EU-Staat

Mein Studienfreund, Carsten Germis, arbeitet heute in der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". Ob aus diesem Grund oder auch nicht, er ist zu einem scharfen Gegner des Fiskalpaktes und offensichtlich auch der weiteren EU-Integration mutiert. Auf Facebook bekannte er sich zur folgenden Meinung über die Vorstellungen Wolfgang Schäubles hinsichtlich der vergemeinschafteten Fiskalpolitik der EU-Länder:

"Wolfgang Schäuble trommelt für seine Vision des Euro-Superstaates. Die Länder sollen noch mehr Macht an Brüssel abgeben. Das machen sie zwar schon seit Jahren. Erfolg hatte es bislang aber keinen". Dazu der Link: Rosa-Vision.

Da ich mit Carsten nicht mehr wie in unseren Studentenzeiten am Biertisch ein Streitgespräch führen kann (er verbringt seine Zeit vorzugsweise in Japan, von wo aus er auf Facebook immer mit einer schlechten Kamera aufgenommene nicht immer schlechte Fotos veröffentlicht), tue ich es eben hier, und zwar durchaus mit der (kleinen) Hoffnung, dass sich die Leser dieses Blogs daran beteiligen werden.

Nun meine kurze Antwort auf die Rosa-Vision:

Ein föderaler Staat kann niemals ein Superstaat sein. Es geht beim föderalen Staatsgebilde vielmehr um eine sinnvolle Kompetenzverteilung unter seinen Gliedstaaten, wobei im Fall des europäischen Souveräns die meisten Staatskompetenzen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip den Nationalstaaten belassen werden müssen (dazu gehören etwa: die Sozialpolitik - damit jeder, der will, für sich selbst seine beliebte "soziale Marktwirtschaft" anstrebt; die Bildung, damit jeder, wer will, für sich selbst einen Bildungsföderalismus betreibt; die innere Sicherheit, damit jeder, wer will, für sich selbst Militär im Landesinneren einsetzen kann, usw.). Von der nationalstaatlichen Ebene auf den europäischen Bund sollen hingegen die Kompetenzen bezüglich der Sicherheit nach Außen übertragen werden (im Klartext: es soll eine europäische Armee entstehen). Was wiederum die fiskalen und außenpolitischen Vollmachten angeht, so ist (wohl bemerkt: nur im Euro-Raum) eine Kompetenzverteilung zwischen den Nationalstaaten und dem europäischen Souverän (anders gesagt: eine partielle Übertragung der Souveränität auf die Union) absolut unumgänglich.

Von der Notwendigkeit des so beschaffenen europäischen Staates will aber bekanntlich keiner sprechen, weil die europäischen Völker - nicht zuletzt leider die bevölkerungsmäßig größten: die Deutschen und Franzosen - zutiefst nationalistisch gestrickt (d.h. durch ihre national selbstgefälligen Eliten erzogen worden) sind. Wir brauchen aber trotzdem den europäischen Föderalstaat, was jeder verantwortungsvolle Politiker immerhin begreift (ohne es allerdings laut auszusprechen). Da die meisten Journalisten nicht für ihre publizierte Meinung, sondern bloß für die Verkaufszahlen ihrer Blätter Verantwortung tragen, kann man auf sie in Europa-Fragen sowieso nicht zählen (diese Bemerkung ist als ein ironischer Seitenhieb zu verstehen - J.M.).

Wir brauchen den europäischen Souverän übrigens nicht nur wegen der augeblicklichen, von Nationalstaaten (darunter zum beträchtlichen Teil von Deutschland, das unter Gerhard Schröder den Stabilitätspakt demoliert hat) erzeugten Schuldenkrise, sondern vielmehr wegen der offensichtlichen Unbelehrbarkeit der jeweils nationalen Eliten, die aus der Geschichte (aus den Kriegen in Europa) und aus der Gegenwart (aus der wirtschaftlichen Nichtigkeit eines jeden europäischen Nationalstaates in der globalen Wirtschaft) nicht lernen wollen.

Es mag stimmen, dass es kein europäisches Volk gibt, das all jene Merkmale aufweisen würde, die die europäischen Nationen haben. Dass es aber durchaus europäische Probleme gibt, d.h. solche, die ausschließlich auf der europäischen Ebene gelöst werden können, darüber kann kein Zweifel bestehen. Die Lage erinnert ein bisschen an Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zuvor hatte es auch eine deutsche Nation nicht gegeben. Wären die Eliten von damals so kleinkariert und selbstzufrieden gewesen wie die von heute, wäre diese wohl niemals entstanden. Ein Unterschied zur unseren Gegenwart soll freilich unterstrichen werden: Es geht heute nicht darum, eine europäische Nation, sondern darum, eine europäische Identität zu schaffen, die die nationale bloß ergänzen würde. Der Nationalstaat muss in der Europäischen Union als der wichtigste Gliedstaat weiterhin existieren, wenngleich um einige Probleme, die er nicht zu lösen vermag, erleichtert.

07.06.2012

Der polnischen Nationalmannschaft soll man keinen EM-Erfolg wünschen

Die Polen hatten Mal guten Fußball - wirklich! Sie waren WM-Dritte 1974 und ebenso WM-Dritte 1982. Sie waren binnen des knappen Jahrzehnts dazwischen dazu imstande, Holland, Italien, Brasilien u.a. Fußballgroße zu schlagen, manche von diesen Mannschaften (etwa Holland, Frankreich oder Italien) sogar vom Feld wegzupusten. Diese Erfolge fielen auf die beste Zeit der kommunistischen Ökonomie im Lande - der mit Schulden finanzierte Konsum boomte. Man konnte  zuweilen den Eindruck gewinnen, die Polen wären mit der Unfreiheit des Kommunismus zu versöhnen gewesen, wenn sie gut zu essen und Autos zu kaufen bekämen sowie einen guten Sport - allen voran den Weltklassefußball - beibehielten.

Obwohl der Fußball dort nach wie vor der Nationalsport Nummer eins ist, lebt Polen seit gut einer Generation schon ohne eine gute Nationalmannschaft. Denn mit dem Niedergang der zentralen Planwirtschaft  Ende der Siebziger ging auch der langsame Niedergang des polnischen Fußballs einher. Zeitgleich begann jedoch die schönste und erfolgreichste Periode der modernen polnischen Geschichte (wenn man von den großartigen Reformen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts absieht). Die polnische Nation hat nacheinander den visionären "Papst des Jahrhunderts" hervorgebracht, den Kommunismus auf friedlichem Wege - nicht zuletzt durch die Erfindung des Runden Tisches - beseitigt, somit den Zerfall des Ostblocks maßgeblich beeinflusst und den Traum der zwei Jahrhunderte verwirklicht - die staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt. Obendrauf hat sie noch eine große Transformation zur Demokratie, Marktwirtschaft sowie den NATO- und EU-Beitritt gemeistert. Die weiß-rote Fahne und der weiße Adler standen in diesen Jahrzehnten für Menschenwürde, Wahrheit, Freiheit, Mut - alles Werte, die weder in Ost noch in West groß geschrieben wurden (werden), für die aber in Polen Dutzende starben, Tausende in Gefängnisse gingen, Ungezählte verfolgt wurden und Millionen hart arbeiteten. Was bedeutete schon angesichts dieser Tatsachen der Umstand, dass die polnische Fußballmannschaft in die globale Drittklassigkeit abrutschte und heute auf den UEFA-Ratingslisten vielleicht auf  dem 30. oder dem 50. Platz rangiert?

Nun haben die Polen eine immer stärkere Wirtschaft - nach der Jahrtausendwende wahrscheinlich die erfolgreichste im Europa. Wahrend im letzten Jahrzehnt in den europäischen Ländern die Ökonomie insgesamt durchschnittlich um 10 Prozent gewachsen ist, hat sie in Polen, das bisher selbst in den vier letzten Krisenjahren keine Rezession erlebt hat, ganze 40 Prozent zugelegt. Wenn die Analogie mit den Siebzigern stimmt, so muss sich auch der polnische Fußball bald erholen. Es gibt  einige Anzeichen dafür: Einige polnische Fußballspieler haben Weltklasseniveau und mit ihren ausländischen Vereinen große Erfolge feiern können. Und die bisher hoffnungslos korrupte, von ehemals kommunistischen Funktionären regierte polnische Liga sorgt für immer mehr talentierte Spieler (Rafal Wolski! - http://www.youtube.com/watch?v=co9uy0k4wG4 - unbedingt bis zum Ende sehen!).

Vielleicht soll man unter diesen Umständen der polnischen Nationalmannschaft vorsichtshalber während der morgen beginnenden EM einen Achtungserfolg wünschen?

Ich würde es gerne tun, kann aber nicht. Denn ich war gerade eben in Polen und habe entsetzt viele mit Nationalsymbolen "geschmückte" Autos gesehen. Diese nationale Billigkeit geht mir zu weit. Und überhaupt will ich es nicht haben, dass emotional aus allen Fugen geratene kollektive Bier-Säufer das in Frage stellen, wofür die weiß-rote Fahne und der weiße Adler mit Krone stehen.


05.05.2012

Den zum Boykott Aufrufenden ist das Schicksal Julia Tymoschenkos egal


Es ist schon merkwürdig, dass beinahe ausschließlich in Deutschland mit der Idee des "Boykotts" der anstehenden Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine gespielt wird. Bloß "gespielt", weil nicht vorstellbar ist, dass der ukrainische Part des zusammen mit Polen organisierten Turniers doch noch in ein anderes Land verlegt werden könnte. Lediglich vorgespielt ist die Empörung über die Behandlung der sich in Haft befindenden Julia Tymoschenkos durch den früheren (?) kriminellen Wiktor Janukowytsch auch deshalb, weil den Politikern, die sich augenblicklich gern als tapfere Menschenrechtskämpfer in ihrer Sache ins Rampenlicht setzen, im September letzten Jahres nichts besonderes bewegte, als die ehemalige ukrainische Premierministerin zu sieben Jahren Haft und ca. 140 Mio.€-Strafe verurteilt worden war. Ich erinnere: Dieses Urteil wurde durch ein politisch gesteuertes Gericht "wegen" ihren früheren Amtshandlungen und nicht wegen ihren in der Tat zwielichtigen privaten Wirtschaftsgeschäfte in den neunziger Jahren verhängt. Im besagten September schwieg z.B. unser Minister für die Abschaffung und den gleichzeitigen Export der Atomkraftwerke, der sich heute so gern als ein Apostel des Menschenrechtsschutzfußballs ausgibt. Da er nicht im Wahlkampf stand, ist davon auszugehen, dass ihm die Ukraine nicht allzu bekannt war. Es zeugt von seinem Pflichtgefühl, dass er trotzdem die verantwortungsvolle Aufgabe auf sich zu nehmen gedachte, in einer Loga des Kiewer oder Charkiwer Stadions die Nation zu repräsentieren.

Die politische Profilierung auf Kosten eines anderen Landes ist geschmacklos. In diesem konkreten Fall ist sie schlichtweg schädlich.

Die ukrainischen und ausländischen Fußball-Fans, bezahlte Tickets in ihren Taschen, werden nun mit den sinnlosen Boykott-Aufrufen verunsichert. Noch wichtiger aber ist das Image der immer noch nicht wohlhabenden ukrainischen Nation, die auf sich sehr große Anstrengungen nahm, um die Europameisterschaft vorzubereiten. Es nimmt einen großen Schaden davon. Man darf auch nicht vergessen, dass sich Jankuowitsch lange zuvor mit seiner Außenpolitik ins internationale Abseits hineinmanövriert hatte. Es ist deshalb kaum zu erwarten, dass er ausgerechnet jetzt, d.h. vor den Augen der Weltöffentlichkeit, nachgibt und auf die politisch gefügige Justiz wieder Einfluss nimmt, diesmal zu Gunsten seiner politischen Hauptgegnerin. Boykottaufrufe ausgerechnet jetzt tragen eher zur Versteifung seiner ohnehin unnachgiebigen Haltung bei. Es darf darüber hinaus nicht vergessen werden, dass selbst der lediglich vorgetäuschte Druck aus Deutschland ausgerechnet in der Ostukraine, wo die deutsche Kriegsbesatzung auch in einigen Generationen nicht vergessen sein wird, zu einer Solidarisierung mit diesem gefährlichen Politiker führt.

Die Tatsache, dass diese und andere negative Folgen der Boykott-Aufrufe bei uns keine Berücksichtigung finden, lässt vermuten, dass es unter denjenigen, die ihr Image auf Kosten der Ukraine "aufpolieren" wollen, niemanden gibt, dem das Schicksal von Julia Tymoschenko so richtig am Herzen liegt. Innenpolitische Punktgewinne im künstlich erzeugten Klima des kollektiven Narzismus mit dem "Lieblingsspiel der Nation" im Hintergrund wiegen mehr als das (Über)Leben eines konkreten Menschen. Nicht nur Janukowitsch scheint die Gesundheit und das Leben seiner politischen Gegnerin egal.... Was für ein erschreckender und was für ein vielsagender Befund!

PS.
Zum Glück hat sich kürzlich der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, mit der nüchternen Kritik an der deutschen Politik in dieser Frage gemeldet (siehe: http://de.nachrichten.yahoo.com/fall-timoschenko-kritik-umgang-deutschen-politik-084211559.html). Für mich große Genugtuung, dass nun zumindest zwei gegen den Strom schwimmen.




East coast 1999 - Fotos


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18.03.2012

Gauck ist der einzige Pole in der politischen Elite Deutschlands

Wir haben ihn also, den neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Selten war die Zufriedenheit der Bürger und der politischen Elite zu Beginn der neuen Amtszeit des Staatsoberhauptes so groß wie heute: Gauck genießt einen riesigen Vertrauensvorschuss. Wenn man noch bedenkt, dass er parteilich überhaupt nicht gebunden ist und keinem Parteiführer sein Amt verdankt, ist er so frei, wie keiner seiner Vorgänger. Da er mehrfach bewiesen hat, dass er Freiheit nutzen kann, müsste eigentlich sein Erfolg vorprogrammiert sein.

Und trotzdem könnte er scheitern. Denn er gehört einer  in Deutschland extrem seltenen Spezies an. Im Osten der Republik wird diese Spezies von einer verschwindend kleinen Minderheit derjenigen gebildet, die früher gegen den Kommunismus waren und auch heutzutage keinerlei verlogene DDR-Nostalgie pflegen. Im Westen des Landes wiederum steht der neue Bundespräsident einer auf Genuss und leichtes Leben trainierten Bevölkerung gegenüber, die kaum über das Vermögen verfügt, das zu verstehen, was für Gauck - einen Boten der sinnvoll und anständig gelebten Freiheit - wichtig ist. Es grenzt vor diesem Hintergrund wirklich an ein Wunder, dass ein solcher Mensch das höchste Staatsamt ausgerechnet in diesem Land bekam.

Gauck ist mit seiner Freiheitsliebe eigentlich ein protestantischer Pole. Sollte diese Wahrheit jedoch hierzulande bekannt werden, wäre sie seinen Erfolgschancen abträglich - in Deutschland sind die Polen eben wegen ihrer Andersartigkeit nicht gerade beliebt. Was hilft Gauck die Tatsache, dass er sich in Polen in die zum großen Teil aus der größten antikommunistischen Bewegung Europas kommende Politkerklasse mit Tusk, Bartoszewski, Komorowski, Buzek (auch Protestant), Kaczynski, Sikorski und Hunderten anderen problemlos einfügen würde? Was hilft ihm in Deutschland, dass er wie die genannten Politiker sich von Ameisen vor allem dadurch unterscheidet, dass ihm Freiheit wichtiger ist als Sicherheit?

Da der neue Bundespräsident in der deutschen Elite der einzige Pole ist, hängt sein künftiger Erfolg primär davon ab, ob er die Begabung an den Tag legen wird, die viele polnische Politiker der ersten Reihe - für gewöhnlich very unprofessional - nicht haben. Es ist die Begabung, sich geschickt zu verstellen (er spricht z.B. bereits ganz gut Deutsch), und die für ihn wichtigen Themen nur indirekt, aber trotzdem deutlich anzusprechen. Wenn er das nicht schafft, werden Kontroversen, die er ungewollt anstoßen wird, die zunehmende Ablehnung des Präsidenten durch die Eliten (vor allem die Medienleute) und auch durch die Mehrheit des Volkes nach sich ziehen. Es sei denn, dem Volk ginge es materiell so gut, dass es kein Interesse daran zeigen würde, was der Präsident so redet.

09.03.2012

Nochmals der "Quadriga-Preis" für Wladimir Wladimirowitsch? - zweite Version

Erinnern Sie sich noch an den biederen Verein "Werkstatt Deutschland", der vor mehreren Wochen ausgerechnet Wladimir Putin mit dem "Quadriga-Preis" für seine "Verdienste für die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen" u.a.m. ehren wollte?

Vielleicht könnte das Kuratorium dieses mit der Regierung und überhaupt mit der offiziellen Politik eng verzwickten Vereins es jetzt nochmals versuchen. Putin hat gerade eine neue Wahlfälschung zu verantworten. Er braucht jetzt die Unterstützung seiner deutschen Freunde. Sonst könnte "die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen" Schaden nehmen.

02.03.2012

Das Gelächter über Putin ist nicht echt


Übermorgen Präsidentschaftswahlen in Russland. Noch niemals hatte Putin in Deutschland so eine schlechte Presse. Immerhin ein gutes Jahrzehnt hat man dem Mann in den Medien, der Politik und leider auch der Politikwissenschaft gewissermaßen gehuldigt. Nun scheint die Stimmung umzukippen. Trotz dieser neuen Nüchternheit in der Beurteilung der russländischen Führung kann man freilich von einem grundlegenden Stimmungswechsel gegenüber dem autoritären und neoimperialen Kreml nicht sprechen.

Solch ein grundlegender - nicht nur auf die Person des künftigen Präsidenten bezogener - Wandel könnte doch nur dann stattfinden, wenn in Deutschland Demokratie und Freiheit gute Zeit hätten. Da dies aktuell nicht der Fall ist, lacht man hierzulande zwar mittlerweile laut und ausgiebig über das Macho-Gehabe Putins sowie über die "Meinungsfreiheit" in Russland. Im Stillen hegt man jedoch (in der alten Tradition des politischen Zynismus, den man in Deutschland oft mit "Realpolitik" verwechselt) für Wladimir Wladimirowitsch viel Verständnis.

Deshalb wird man nach seinem Sieg am kommenden Sonntag wieder Überlegungen darüber auffrischen, wie er Russland "modernisieren" könnte, ohne es demokratisieren zu müssen. Und - auf der praktischen Ebene - wird man sich aufs Neue krampfhaft um Aufträge für deutsche Firmen im autoritär reigerten Russland bemühen.

19.02.2012

Zuerst "Gauck for President!", dann Volkswahl des Präsidenten

Überall in parlamentarischen Systemen sind Regierungschef und Staatsoberhaupt zumindest insofern Konkurrenten, als sich der eine auf Kosten des anderen profitieren kann. Es ist so, obwohl gute Verfassungen es verhindern können, dass beide auf gleichem Feld zu Konkurrenten werden.

Deutschland widerspricht - mit der Ausnahme des Duos Kohl-von Weizsäcker in den achtziger Jahren - diesem "Gesetz". Die deutsche Besonderheit geht nicht darauf zurück, dass der Bundespräsident beinahe ausschließlich repräsentative Vollmachten hat und selbst über kaum etwas entscheidet. Das íst bei Staatsoberhäuptern nichts Außergewöhnliches. Vielmehr ist die Tatsache von Bedeutung, dass der Bundespräsident de facto die Schöpfung des Kanzlers darstellt - eine einmalige Entwürdigung des Amtes und eine Beledigung für jedes nicht staatgläubige Volk.

Das deutsche Oberhaupt ist unter funktionalen Gesichtspunkten in normalen Zeiten noch unbedeutender als der englische Monarch. Denn im symbolischen Sinne ist die Queen ein lebendes Denkmal Englands. Der deutsche Bundespräsident muss sich dagegen die Popularität erarbeiten. Er kann überhaupt Konturen gewinnen, wenn er für sich Themen findet, die zwar von gesellschaftlicher Bedeutung, aber zugleich für den Regierungschef nicht so wichtig sind. Darüber darf er frei sprechen. Würde er sich der "Regierungsthemen" kritisch annehmen, ist der Konflikt mit dem Kanzler vorprogrammiert. Das sich die Kreatur selten gegen den Schöpfer stellt, bleibt von Weizsäcker im "System Kohl" die Ausnahme.

Da sich der durchschnittliche deutsche Bürger auch seitens des Staates nichts sehnlicher zu wünschen scheint als die Bestätigung seines vermeintlich großartigen Wesens, soll das Staatsoberhaupt noch die Integrität eines Beinahe-Heiligen haben. Auf einen solchen Mann will er aufschauen, um sich in ihm "wieder finden" zu können. In einer fortschreitend entideologisierten Gesellschaft können zudem noch Kleider und Tattoos seiner Ehefrau eine zunehmend große Rolle bei Popularitätsgewinnung des Bundespräsidenten spielen.

Angela Merkel hat sich als kein guter Demiurg erwiesen. Das ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sie bereits zwei durchaus unperfekte Schöpfungen hingelegt hatte. Zuerst war es Horst Köhler, ein sehr erfolgreicher Finanzexperte, einnehmend, integer und im Volk sehr populär. Er wollte sich aber die Freiheit nicht nehmen lassen, seine Meinung zu äußern. Als er eben aus diesem Grund von den meisten Medien, die ihre oft schlichtweg unvernünftig-verlogenen nationalen Tabus pflegen, regelrecht demontiert wurde, schmiss er das Amt, zumal ihn die Schöpferin im Regen alleine stehen ließ. Der Kanzlerin fiel daraufhin nichts Gescheiteres ein, als einen Parteisoldaten, der ihr ansonsten zum Konkurrenten hätte werden können, zum Repräsentanten Deutschlands zu machen. Aber Christian Wulff war zuvor ein Ministerpräsident gewesen, was ohne Kontakte mit den - wie Kohl sie zu nennen pflegte - "Bimbesleuten" nicht geht. Und nun stellt sich heraus, dass Wulff deren Gesellschaft offenbar sehr mochte, unabhängig davon, ob das kitschige Hotelzimmer in Fichte oder Plüsch gehalten war. Trotz Popularität im Volk konnte er die Vorwürfe der Vorteilsnahme nicht aussitzen, zumal er es sich sehr ungeschicht mit den Medien anstellte.

Augenblicklich hat Deutschland Glück. Die Kanzlerin sieht sich dazu gezwungen, bei ihrer nächsten Schöpfung das Prinzip der Überparteilichkeit mit zu bedenken. Dieses fällt ihr offensichtlich nicht leicht, aber es gibt noch Chancen dafür, dass Deutschland endlich einen Bundespräsidenten bekommt, der sowohl die Regierung als auch die Medien als auch die Opposition überhören kann, wenn er zu irgendeinem Sachverhalt Stellung beziehen möchte.

Zur Zeit ist Joachim Gauck der Favorit des Volkes. Wie immer in dieser Frage, scheint diese Tatsache die Parteien kaum etwas zu kümmern - sie setzen auf die in der Tat erstauntliche Hörigkeit vieler Deutschen. Merkel und Teile der CDU wollen Gauck nicht, weil sie ihn schon einmal abgelehnt haben. Die SPD wiederum stand nie so richtig hinter ihm - sie hatte ihn früher vorgeschlagen, um der Kanzlerin bei der Durschsetzung ihres eigenen Kandidaten Probleme zu bereiten. Heute bevorzugen die Sozialdemokraten deshalb einen wie auch immer gearteten Deal mit Frau Merkel.

Nur durch den lauten Ruf nach Gauck kann Deutschland einen Präsidenten bekommen, den ein sich selbst achtendes Volk verdienen würde. Denn es geht hier weniger um die Person des Kandidaten, sondern vielmehr um die Aufwertung unseres Repräsentanten. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Amt tatsächlich und auf Dauer gestärkt wird, wird freilich erst dann groß sein, wenn der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt wird. Wenn aber jemand glaubt, Frau Merkel oder irgendein anderer Parteiführer würde sich für die Volkswahl des Staatsoberhauptes einsetzen, dem ist nicht zu helfen.

17.02.2012

Ein deutsches Kinderspiel: Wie oft mache ich den Bundespräsidenten?

In der Tat zeugt dieser Abgang des Bundespräsidenten - der zweite in der Reihe (in einem Entwicklungsland?) - von der strukturellen Schwäche des Amtes, und das Schweigen der Medien darüber zeugt von der Unfähigkeit hierzulande, (selbst)kritisch zu denken. Mit ukrainischen Problemen (also mit echten Problemen) konfrontiert, würde diese bundesdeutsche Demokratie nicht unbedingt von Dauer sein.

08.01.2012

Nicht nur Christian Wulff ist das Problem, sondern auch das Amt des Bundespräsidenten

Nicht das Darlehen und der Kredit des Christian Wulff und auch nicht seine Telefonate mit einigen Verantwortlichen für das Durchschnittsniveau des Journalismus in diesem Lande sind das Hauptproblem der Wulff-Affäre. Das eigentliche Problem stellt das Amt des Bundespräsidenten dar.

Dieses Amt gibt seinem Träger (oder - vielleicht irgendwann im diesbezüglich reaktionären Deutschland - der Trägerin) so gut wie keine Macht, so dass sich der Präsident diese erst selbst erschaffen muss, und zwar durch die Popularitätsgewinnung. Von Weizsäcker hat sich beispielsweise mit seiner Gabe, so zu reden, dass die meisten das Gefühl hatten, Gleiches wie er zu meinen, beliebt machen können. Dafür musste er das Unbehagen des Bundeskanzlers Kohl, den er übrigens am liebsten gestürzt hätte, ertragen. Von Roman Herzog ist nur eine vage Erinnerung an irgendeinen "Ruck" geblieben. Noch weniger Spuren hat Johannes Rau als Bundespräsident hinterlassen; er lebte im dunkelsten Schatten des protzigen Aufsteigers Schröder, dessen ungebendigte Machtgier den Bürgern (und dem ähnlich wie er gestrickten russischen Staatspräsidenten) offenbar sehr imponierte. Horst Köhler war wegen seiner einnehmenden Art und Selbstständigkeit im Urteil recht populär, aber er bewies unwillentlich, dass der Präsident keineswegs alles sagen darf, zumal wenn es sich um die Wahrheit handelt. Sobald er die Banalität erwähnte, Deutschland engagiere sich nicht nur wegen seiner vermeintlich grenzenlosen Freiheitsliebe militärisch in der Welt, sondern nicht zuletzt um seine Wirtschaftsinteressen zu wahren, setzte er sich der niveaulosen Kritik der für das aus historischen Gründen nicht immer überzegende Selbstverständnis dieser Republik verantwortlichen Medienkartelle aus. In dieser Lage hat ihn sogar die Bundeskanzlerin nicht in Schutz nehmen wollen - eigentlich eine grobe Illoyalität, die davon zeugte, wie wenig sie von diesem Amt, das sie so gern mit eigenen Favoriten besetzt, und von diesen Favoriten selbst hält. "Bloß keiner von außerhalb der Parteipolitik" lautete offenbar die Devise bei der Suche nach dem Nachfolger für Köhler, der Charakter bewiesen hatte, als er das Amt der Schönsprechpuppe von Kanzlers Gnaden geschmissen hatte. Daraufhin hat sich Merkel zu ihren Funktionen als Regierungs- und Parteichefin auch noch ihren neuen Präsidenten Wulff hinzugefügt, obwohl sie Joachim Gauck gewiss sehr schätzt. Gauck aber, von dem nicht bekannt ist, weshalb er sich am lachhaften Scheinwhalkamp um das Amt überhaupt beteiligt hatte, hätte auch die Unterstüztung der Opposition bekommen und wäre deshalb recht unabhängig...

Heute sollten die politischen Eliten die längst fällige Reform des Amtes fordern (es gibt in der Welt viele Beispiele für bessere Lösungen als in Deutschland), statt von Merkel zu erwarten, dass sie dessen Personal wieder im Alleingang bestimmt (es wird in diesem Zusammenhang sogar vom "Machtwort-Sprechen" geschrieben - sic!). Einfacher ist es jedoch, Ausschau nach einem Engel (im Himmel gibt es höchstwahrscheinlich keine Hypotheken-belastete Häuser) zu halten, der nach Christian Wulff dem Amt, von dem in seiner gegenwärtigen Konstitution nur Schaden ausgeht, zu einer scheinbaren Nützlichkeit verhilft.